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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder
Autoren: Sabine Rennefanz
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annähern. Ich will mit meiner Vergangenheit nicht allein sein, zumindest noch nicht.
    Mein Lehrer, Herr Weise, übernimmt sofort die Kontrolle. Er will wissen, woher wir im Einzelnen kommen, Osten oder Westen, welche Berufe wir haben. Er macht es geschickt, wirkt nicht neugierig, sondern fürsorglich.
    »Ich frage, um herauszufinden, was ich an Wissen bei Ihnen voraussetzen kann.«
    Westdeutschen müsse man die Geschichte nun mal anders erklären als Ostdeutschen. Wenn nur Ostler da seien, mache er gern Walter Ulbrichts Stimme nach. Bei uns ist er sich wahrscheinlich nicht sicher, ob wir Walter Ulbricht überhaupt kennen. Wahrscheinlich hält er mich und meine Freundin Wiebke auch für zu jung, um ihn noch erlebt zu haben. Man könnte auch sagen: Er fragt vorher ab, um zu wissen, was er nachher sagen darf oder nicht. Damit er nichts Falsches sagt.
    Es funktioniert. Wir gehorchen sofort, als wären wir seine Schüler, und zählen reihum nicht nur unsere Wohn-, sondern auch unsere Geburtsorte auf. Wir hätten ihm auch unsere Personalausweisnummern gegeben, hätte er sie abgefragt.
    Herr Weise führt uns ins Tourismusbüro an einen großen Tisch und wedelt mit einem Stadtplan. Auf dem Entwurf der Stadtanlage von 1952 sieht man den Werkeingang des EKO , es sieht aus wie ein Märchenschloss, mit Kuppel, Säulen und Torbogen. Fabriken sollten Schlösser sein, die Werktätigen ihre Herren. So träumte man damals. Man wollte eine Stadt erschaffen, die die Schönheit, die Überlegenheit des Sozialismus in Stein bannt. »Man dachte, dass die Umgebung den Menschen prägt, hier sollte der neue Mensch entstehen«, erklärt Weise.
    Seine Stimme: ohne jede Emotion. Kalt. Als hätte ihm die DDR nie etwas bedeutet. Wie sehr er mich gleichzeitig damit an die DDR erinnert. Wie er mit der Stimme leiser wird, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Wie er immer wieder erst unsere Meinungen abzutasten scheint, bevor er selbst etwas sagt. Zur Vollendung des Entwurfs von 1952 kam es übrigens nie.
    Die Sonne scheint, als wir vor die Tür treten. Die ersten Wohnhäuser für die Stahlarbeiter wurden billig und schnell hingestellt, die Wohnungen hatten kleine Fenster und niedrige Decken. Bald beschwerten sich die Arbeiter, auch die SED -Führung war nicht zufrieden. Die mickrigen Häuser, die im Stil der zwanziger Jahre gebaut wurden, passten nicht zur einer Vorzeigestadt. Die Bauherren suchten neue Ideen. Sie wurden nicht beim deutschen Bauhaus fündig – das lehnte man als zu avantgardistisch ab –, sondern anderswo. »Damals wurde ein ganzer Sonderzug mit Architekten von Berlin nach Moskau geschickt«, sagt Weise.
    Wir bleiben am Denkmal für die gefallenen sowjetischen Soldaten stehen, vor dem sich ein weiterer Aufmarschplatz erstreckt. Der Platz des Gedenkens. Dahinter beginnt der zweite Wohnkomplex. Die Häuser sehen schon ganz anders aus als ihre Vorläufer. Die Fassaden mit Putzornamenten, Arkaden, Säulen, Balkonen dekoriert, alles streng symmetrisch. Die Wohnungen mit ihren Parkettböden, groß und hell. Besonders viel Mühe gaben sich die Baumeister mit den Eingängen der Wohnhäuser, sie schufen aufwendig verzierte Torbögen, betonten die Aufgänge.
    Marktplätze wie in bürgerlichen Städten gab es in Eisenhüttenstadt nicht, das Leben sollte sich in den Höfen hinter den Torbögen abspielen. In den Hinterhöfen wurden Bäume gepflanzt, Beete angelegt, Künstler schufen Skulpturen gesunder Jünglinge, die zwischen Sandkasten, Springbrunnen und Wäscheplatz aufgestellt wurden. Ich laufe meinem Lehrer und meinen Freunden hinterher, ich finde es schwer, zuzuhören, ich verfolge meine eigenen Gedanken. Als Weise noch Schulleiter war, grüßte ich ihn manchmal im Flur und er ging ohne ein Wort zu sagen vorbei. Als hätte er mich gar nicht gesehen. Er hatte immer dieselbe Haltung, Hände auf dem Rücken, den Kopf leicht erhoben, den Blick auf einen fernen Punkt geheftet.
    Stadtführer Weise ist weitergelaufen. Er läuft schnell und entschuldigt sich dafür, die Zeit, Sie verstehen. Nicht länger als zwei Stunden sind für die Tour angesetzt. »Sehen Sie, Schloss Pillnitz«, ruft Weise und zeigt auf eine Villa in der Karl-Marx-Straße mit dunklem Schieferdach, davor stehen Säulen, Springbrunnen und Glockenturm. Das Haus erinnert tatsächlich an das Barockschloss an der Elbe. Nach der Wende wurde alles aufwendig renoviert. »Was war in dem Haus?«, will meine Freundin Flora wissen. Sie stammt aus der Nähe von Köln, ist aber in Brüssel als
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