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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder
Autoren: Sabine Rennefanz
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Tochter eines Korrespondenten aufgewachsen und strahlt von daher eine gewisse Weltläufigkeit aus. Vielleicht die Wohnung des örtlichen Stasi-Chefs? Das Parteibüro?
    Ich ahne, was meine Freunde denken, obwohl ich die Antwort schon kenne. »Ein Kindergarten«, erwidert Weise und lächelt triumphierend. »Für Kinder wurde in der DDR alles getan. Warum macht man das heute nicht? Man könnte sie zu
Toleranz und Demokratie erziehen«, sagt er und blickt ein bisschen provokant in unsere Gesichter.
    Es macht ihm Spaß, mit den Wahrnehmungen seiner Zuhörer zu spielen. Flora und ihr Freund Till, den sein Schweizer Akzent noch verrät, obwohl er seit Langem in Berlin lebt, machen sich ihre Gedanken über den Stadtführer. Wie lebte er in der DDR ? War er Dissident? Mitläufer? Täter? Kritisch oder angepasst? Weise lässt immer wieder Sätze fallen, die mal das eine, mal das andere zu belegen zu scheinen. Er kritisiert die »geschlossene Gesellschaft« der DDR , die gegenseitige Überwachung in den hübsch begrünten Hinterhöfen. Dort passte immer jemand auf, wer in welchem Hauseingang verschwand. Er lobt aber auch Helmut Kohls Einsatz für Eisenhüttenstadts Stahlwerk nach der Wende. Er, Kohl, sorgte dafür, dass ein Warmwalzwerk gebaut wurde, damit das Stahlwerk wettbewerbsfähig bleibt. »Sonst hätten hier alle Linkspartei gewählt.«
    Dann wieder spricht er von »meinem Parteisekretär«, der ihn gerügt hat, als er einmal am 1. Mai die Fahne nicht rausgehängt hatte. Er ist kritisch, aber nicht zu kritisch. Später werden meine westdeutschen Freunde fest davon überzeugt sein, dass er zu DDR -Zeiten ein Oppositioneller war. Den Satz von »meinem Parteisekretär« überhören sie.
    Dass ein Oppositioneller es in der DDR als Lehrer sehr schwer gehabt hätte, dass beides gar nicht zusammengehen konnte, ohne denjenigen, der es versuchte, um den Verstand zu bringen, bedenken sie nicht.
    Ich erinnere mich, dass mein Lehrer zu DDR -Zeiten die berüchtigten Wehrlager in der Schule organisiert hat, in denen 15-, 16-jährigen Jungs das Schießen auf Menschen beigebracht wurde. Es war eine Art Vorbereitung auf die Armee. In der Schule warb er bei den Jungs dafür, sich länger als die üblichen eineinhalb Jahre für die Volksarmee zu verpflichten. Ich weiß nicht, wie weit das Werben ging. Ob er Sätze gesagt hat wie: »Wenn Sie später studieren wollen, dann …« Weise war jedenfalls ein treuer Genosse. Das erzählt er in großer Runde aber nicht.
    Ich verstehe, warum er nach der Wende nochmal Karriere machen konnte. Er hat in beiden Systemen gut funktioniert. Er wurde 1991 zum Schulleiter befördert und baute die Schule zum Gymnasium um. Zwischen Wendehälsen und DDR -Verklärern stand er mittendrin: ein vernünftiger Pragmatiker. Er glitt mit einer geräuschlosen Eleganz vom Sozialismus zum Kapitalismus. Als Jüngere, die mit dem Systemwechsel größere Schwierigkeiten hatte, bringt mich das in einen Zwiespalt, ich bin hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Verachtung. Es gab solche Leute, genauso wie es Westdeutsche gibt, die gut im Osten funktioniert hätten.
    Später, Tage nach der Führung, werde ich ihn allein in seinem Häuschen im Grünen besuchen. Er wird Kaffee machen und uns beiden je ein Stück Torte hinstellen. Er wird sofort anfangen zu plaudern, wird ohne ins Stocken zu geraten über die Anarchie in den neunziger Jahren erzählen, er ist es gewöhnt, dass man ihm zuhört. Aber ich bin nicht nur gekommen, um zuzuhören. Ich habe eine Frage, die ich stellen muss. Ich zögere sie hinaus, ich habe Angst davor, sie zu stellen. Meine Angst vor ihr ist vielleicht eine spezifisch ostdeutsche Angst: die Angst, das unausgesprochene Agreement zu brechen, dass wir, die Jüngeren, die Älteren nichts fragen, was ihre Vergangenheit im untergegangenen Staat in Frage stellen könnte. Als wäre es besser, keine Wunden aufzureißen. Als wäre alles schon schwer genug. In all den Jahren, die wir das unausgesprochene Agreement gehalten haben, sind die Fragen, die wir nicht gestellt haben, größer und größer geworden.
    Auch jetzt, während ich all meinen Mut zusammennehme, um sie zu stellen, scheint die unausgesprochene Frage zwischen uns weiterzuwachsen. Erst in dem unerhörten Moment, in dem ich sie stelle, klingt sie auf einmal ganz banal: Wie war es als Geschichtslehrer für ihn, die Lügen in der DDR zu unterrichten?
    Herr Weise wird ganz ernst. Er legt die Kuchengabel hin und verwandelt sich. Jetzt ist er nicht
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