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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder
Autoren: Sabine Rennefanz
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zur Französischen Revolution«, lautet einer der Sätze, die aus dem Geschichtsunterricht hängengeblieben sind. Ich hatte trotzdem den Eindruck, dass Herr Weise lieber über die Erdgeschichte sprach, Pleistozän, Holozän, Tertiär, alles, was vor dem Klassenkampf lag. Er war streng. Wenn man nicht alles beim ersten Mal verstand, wurde er ungeduldig. Ich habe ihn bewundert, aber ich hatte auch ein wenig Angst vor ihm.
    Herr Weise stammt ursprünglich aus Jena in Thüringen, nach dem Studium 1962 wurde er nach Eisenhüttenstadt delegiert. Es wurde seine Heimat. Nun führt er Touristen durch die Überreste einer Welt, die ihren Sinn verloren hat.
    Er ist einer der Überlebenden.
    Zwei Amerikaner, mehr sagte die Frau vom Tourismusbüro am Telefon nicht. Sie hätten nur an einem Tag Zeit, an einem Mittwoch im Dezember. An dem Tag hatte seine Frau einen Arzttermin, Weise wollte sie begleiten. Sollte er seine Frau im Stich lassen wegen zweier Amerikaner? Jörg Weise überlegte nicht lange und sagte ab. Ein Kollege übernahm die Amerikaner.
    Einer von ihnen hieß Tom Hanks, der zum Dreh in Berlin war und einen Abstecher in die erste sozialistische Stadt machen wollte. Keine Ahnung, woher Tom Hanks von Eisenhüttenstadt wusste. Er war danach jedenfalls so begeistert, dass er bei einem Auftritt in der Show des US -amerikanischen
Talkmasters David Letterman von der Stadt schwärmte. Er konnte das ü nicht aussprechen, also sagte er: Aisenchuttenschdaat.
    Letterman hatte keine Ahnung, wovon Hanks sprach: What is this? Was ist das, dieses Aisenchuttenschdaat?
    Vielleicht dachte er an ein Bierfest – Bier und Autos, dafür sind die Deutschen doch berühmt.
    Hanks sagte: Eine Modellstadt, die 1953 errichtet wurde, um den Menschen zu zeigen, wie toll der Sozialismus ist.
    Es war zwar drei Jahre früher, 1950, aber was heißt das schon, ist ja schon lange her.
    Tom Hanks sprach von »Iron-Hut-City«.
    Das Tourismusbüro ließ nach dem Auftritt T-Shirts mit dem neuen Namen drucken. Sie hängen im Tourismusbüro, man kann sie kaufen. Seitdem wartet die Stadt auf die Scharen von Amerikanern, die sich »Iron-Hut-City« ansehen wollen.
    Der Mann, der Tom Hanks verpasste, trägt eine braune Hose und ein rot kariertes Hemd. Seine weißen Haare sind zurückgekämmt, sein Gesicht gebräunt. Er ist der einzige Mensch, der am Sonntagmorgen vor dem Tourismusbüro in der Frühsommersonne steht. Der letzte Überlebende. Jörg Weise hat denselben abschätzenden, überlegenen Blick, den er schon früher hatte.
    Ich fühle mich sofort wieder wie eine 16-Jährige und habe Angst, etwas falsch zu machen. Das ärgert mich, ich bin eine erwachsene Frau, und so sage ich vielleicht eine Spur zu kühl: »Guten Tag, wie geht’s?« und nenne dann meinen Namen, obwohl er doch weiß, wie ich heiße, wir haben vorher telefoniert. Es entsteht eine kleine Pause.
    Mein Lehrer starrt mir ins Gesicht, als suche er nach etwas. Er kann sich nicht an mich erinnern. Ich werfe ihm das nicht vor, es ist lange her, dass er mein Lehrer war. »Wie geht es Ihnen?«, erwidert er, er zieht das letzte Wort besonders lang, Iiihnen. Vielleicht findet er es merkwürdig, dass ich mich durch eine Stadt führen lasse, die ich doch kennen müsste. Es ist ja auch merkwürdig, aber ich brauche ihn.
    Meine Brücke in die Vergangenheit.
    Ich habe sechs Freunde mitgebracht, drei Westdeutsche, darunter meine Freundin Flora, die aus Köln stammt und inzwischen bei einem großen deutschen Verlag arbeitet, ihren Freund Till, ein Schweizer. Mit dabei sind außerdem meine Freundin Wiebke, eine selbstbewusste Ostberlinerin, die am Tag der Einheit 1990 schwarze Sachen trug, und Ivan, ein Engländer, der den Kalten Krieg nur aus den James-Bond-Filmen kennt. Die Jüngste ist 28 Jahre alt, der älteste 48. Alle haben studiert, die Westdeutschen in Paris, London und York, die Ostdeutschen in Dresden und Hamburg. Keiner außer mir kennt Eisenhüttenstadt. Ich habe sie eingeladen und in die Betreffzeile der E-Mail geschrieben: Reisen wie Tom Hanks. Das hatte keiner kapiert, weil sie diese Schlagzeile, dass Hanks in Eisenhüttenstadt war, verpasst hatten. Ich will ihnen Eisenhüttenstadt zeigen, die Stadt, in der ich aufwuchs, das ist der eine Grund. Der andere ist etwas komplizierter: Ich habe sie auch als Schutz mitgebracht.
    Die Vergangenheit ist wie eine nachtragende Freundin, die man lange nicht gesehen hat. Man kann sich nicht einfach vor die Tür stellen und klingeln, man muss sich langsam
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