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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder
Autoren: Sabine Rennefanz
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Straße. Die meisten kennen es nur vom Durchfahren, eines dieser ausgestorben wirkenden Dörfer, wie es viele gibt in Brandenburg. Nichts bewegt zum Halten, keine hübsch renovierten Katen, kein Schloss, kein Bio-
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    Früher gab es einen Konsum, eine Gaststätte, eine Post, ein Pfarrhaus und eine Genossenschaft, die das Land kollektiv bestellte. Aber es wäre zu viel gesagt, wenn man behaupten würde, es wäre früher alles besser gewesen. Es ist ein armes Land, zerschunden von Jahrhunderten von Kriegen. Selbst der Adel, dem das Land früher gehörte, baute eher bescheidene Schlösser. Man lebte damals, als ich klein war, wie man vor hundert Jahren schon gelebt hatte, nur dass man nicht mehr für Gutsherren arbeitete, sondern für die Genossenschaft. Die Jahreszeiten bestimmten den Rhythmus des Lebens. Nach dem Frühling kam der Sommer, nach dem Sommer kam der Herbst und es gab im Garten immer etwas zu graben, zu säen, zu jäten.
    Meine Eltern und ich wohnten in einem alten Bauernhaus. In der Küche stand ein uralter Ofen, auf dem wir Wasser heiß machten und kochten. Wenn wir uns waschen wollten, füllten wir heißes Wasser in eine gelbe Plastikschüssel. Ein Bad hatten wir Anfang der achtziger Jahre noch nicht. Im Winter wurde es bitterkalt, meine Mutter hängte Decken vor die Fenster, aber am Morgen hatten sich innen trotzdem Eisblumen aus unserem Schweiß und unserem Atem gebildet.
    Ich war ein braves, stilles Kind. Ideales Elternglück. Eines, das beim Essen am Tisch mit den Erwachsenen saß, schon früh Messer und Gabel benutzte und wartete, bis jemand sagte, dass ich aufstehen dürfe. Ich weinte höchstens, wenn ich einen Fleck auf meiner Pionierbluse hatte und ich sprach wenig. Auch mein Vater und meine Mutter waren eher stille Personen. Wir waren keine Familie, in der man sich ständig fragte, wie geht’s dir, was denkst du, wie war dein Tag? Manchmal ließ meine Mutter mich mit ihr Kuchen essen und einen Romy-Schneider-Film gucken. Sie liebte Romy Schneider, Cary Grant, Marilyn Monroe. Wenn ich mich langweilte, sagte sie, geh raus, geh spielen, guck ein Buch an. Ich habe das nicht als Nachlässigkeit empfunden. Es waren die achtziger Jahre, die Zeit vor Erziehungsratgebern, Pekip-Kursen und pädagogisch wertvollem Spielzeug.
    Ich ging hinaus in den Garten, kletterte auf Bäume und baute mit den Nachbarskindern Baumhäuser. Aber am liebsten war ich allein. Ich legte mich auf die Wiese und sah den Käfern und Schmetterlingen zu, ich hörte auf die Geräusche, das Summen, das Rascheln, und der Wind streichelte das Gras. Ich weiß nicht, ob Kinder das heute noch machen, im Gras liegen und den Käfern zusehen. Wahrscheinlich gibt es Workshops dafür oder Anleitungsbücher.
    Am liebsten ging ich rüber zum Nachbarhaus, dort wohnten meine Oma und mein Opa. Mein Opa war, wenn ich zurückdenke, ein Anker in meinem Leben. Er kümmerte sich um ein paar Pferde, und ich half ihm dabei. Ich striegelte ihr Fell, ich fütterte sie, ich wechselte ihr Stroh. Am Wochenende nahm er mich mit auf lange Spaziergänge durch den Wald. Er lehrte mich, die Spuren von Hasen und Rehen zu unterscheiden. Er zeigte mir, welche Pilze essbar und welche giftig sind. Er brachte mir bei, dass man sich vor Wildschweinen in Acht nehmen muss, wenn sie mit ihren Jungen unterwegs sind. Mit meinem Opa wurde der Wald zu einem geheimnisvollen Ort, in dem unabhängig von uns Menschen eine verborgene Welt existierte.
    Er starb, als ich neun war. Meine Mutter sagte, es habe etwas mit dem Kriegsgefangenenlager in Sibirien zu tun, in dem er während des Zweiten Weltkrieges gesessen hatte. Er war 1942 in der Nähe von Smolensk den Russen in die Hände gefallen und erst 1949 entlassen worden. Mir blieb haften, dass die Russen irgendwie schuld am Tod meines Opas waren. Ich wusste damals noch nicht, dass ich später selbst einmal in einen Feldzug nach Russland ziehen würde.
    Fünf Jahre war es her, dass mein Opa gestorben war, als wir im Auto nach Eisenhüttenstadt saßen. Ich dachte an ihn, vermisste ihn immer noch. Wir passierten auf dem Weg sechs kleine stille Dörfer, die alle aussahen wie mein Dorf, mit Koniferen in den Gärten und Schäferhunden am Zaun. An einer Eisenbahnschranke mussten wir anhalten. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie sich wieder hob. Dann mussten wir noch einen Berg erklimmen, so kam es mir zumindest vor, als das Auto den Hügel hinaufschlich, hinter dem Eisenhüttenstadt lag.
    Fremdsprachen fielen mir leicht. Ich hatte in den
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