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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder
Autoren: Sabine Rennefanz
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bevor man sie hinauswarf. Sie hat um diese Geschichte nie viel Wirbel gemacht. Vielleicht war sie froh, weil sie wusste, dass es sie vor schwierigen Entscheidungen bewahrte. Sie hätte Republikflüchtlinge verurteilen müssen. Oder Asoziale. Alle, die nicht in den Staat passten.
    Im Rückblick verblüfft mich, dass sie dem Staat trotzdem die Treue hielt. Sie glaubte lange, dass die DDR das bessere, antifaschistische, menschlichere Deutschland sei. Dass die Härte notwendig sei. Sie verteidigte gegenüber Besuchern aus dem Westen die DDR und auch den Mauerbau.
    Direkt nach ihrem Studienabbruch lernte sie meinen Vater kennen und wurde relativ schnell schwanger. Seitdem trieb sie der Ehrgeiz einer Frau, die ihre eigenen Träume in der Tochter verwirklicht sehen wollte. Ich durchschaute das früh, ohne genau zu wissen, wie ich damit umgehen sollte.
    Wenn ich am Ende des Schuljahres mit einem Zeugnis nach Hause kam, prüfte sie jede Note. Sie zeigte mit ihrem Zeigefinger auf jede Zwei. Eine Drei war eine Katastrophe. Ich weiß nicht, was sie gemacht hätte, wenn ich eine Vier oder eine Fünf geschrieben hätte.
    Aber ich habe das zweitbeste Zeugnis, verteidigte ich mich.
    Nächstes Jahr hast du hoffentlich das beste, sagte sie.
    Als es um die neue Schule ging, konnte ich den Ehrgeiz meiner Mutter für meine Sache nutzen. In der DDR war es nicht einfach, Abitur zu machen. Aus jeder Klasse wurden nur ein oder zwei Kinder zugelassen. Wenn ich an die EOS Clara Zetkin kommen würde, könnte ich Abitur machen und hätte meinen Studienplatz fast sicher. Meine Mutter überredete meinen Vater, nach Eisenhüttenstadt zu fahren. Meine Eltern saßen auf der Bank vor dem Lehrerzimmer, während ich den Flur auf und ab lief. In dieser Situation konnte ich nicht stillsitzen.
    Die Tür öffnete sich, eine Frau im langen Rock bat mich in den Raum. Zwei weitere saßen hinter einem langen Tisch, davor stand ein einzelner Stuhl. Zwischen ihren Köpfen sah ich den leeren Schulhof. Es war Nachmittag, die Schüler waren zu Hause. Die Sonne schien auf den Beton.
    Die Frau mit dem Rock war die Direktorin. Sie hatte graue glatte Haare, die ein Scheitel akkurat trennte. Sie trug eine graue Bluse und einen grauen Rock. Sie sah aus wie die Frauen von den Bildern nach dem Krieg, die wenig zu es-
sen, aber viel zu tun hatten und selten in den Arm genom-
men wurden. Sie hieß Frau Koschke und war, wie ich später erfuhr, weit über die Schule hinaus gefürchtet. Alle hatten Angst vor ihr. Jüngere Kolleginnen, die es wagten, in Hosen oder gar Jeans zur Schule zu kommen, ermahnte sie. Andere wurden gerügt, weil sie Karten an Verwandte in den Westen schrieben. An den Klassenfeind! Ein EOS -Lehrer tat so etwas nicht. All diese Dinge wusste ich damals nicht.
    Ich setzte mich hin und strich meinen Rock glatt. Meine Nervosität war mit einem Schlag weg. Ich konzentrierte mich auf die Fragen, die auf mich einprasselten.
    Wie stehen Sie zur DDR ? Erläutern Sie Ihren Klassenstandpunkt! Welche Funktionen hatten Sie im Gruppenrat? Lesen Sie die Junge Welt ? Hat Ihre Familie West-Kontakte? Haben Sie einen gefestigten Berufswunsch? Sind Sie sich bewusst, was es bedeutet, zu den künftigen Kadern der DDR zu gehören?
    Was das Wort »Kader« genau bedeutet, davon hatte ich keine Vorstellung. Ich wusste nur, dass man eine einflussreiche, mächtige Person ist, wenn man zu den »Kadern« zählt.
    Das »Sie« irritierte mich. Nach der Jugendweihe galten Schüler als erwachsen und wurden von Lehrern gesiezt, ich hatte mich daran noch nicht gewöhnt.
    Was im Rückblick wie ein Verhör klingt, war für mich eher ein Rollenspiel. Wenn ich heute an diese Aufnahmeprüfung zurückdenke, muss ich an Brigitte Reimann denken. Sie beschrieb die DDR als ein Indianerspiel für Erwachsene, mit Spähern und Fallen, Geheimnamen und -operationen, mit Aktionen und Gegenaktionen. Mir gefiel die Beschreibung. Sie traf.
    Wenn man mit offiziellen Stellen zu tun hatte, musste man eine Rolle spielen. Ich war so erzogen worden, dass ich wusste, was ich sagen musste, um nicht aufzufallen. Die Phrasen gingen mir leicht von den Lippen. Dass wir zu Hause West-Fernsehen guckten und dass ich Erich Honecker für eine Witzfigur hielt, behielt ich für mich.
    Wer damals aufwuchs, der wusste instinktiv, dass die eigene Meinung niemanden interessierte, niemanden zu interessieren hatte und sogar gefährlich werden konnte. Ich hatte mir das nicht ausgedacht, ich kannte es nicht anders. Mir fiel, wie den
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