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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder
Autoren: Sabine Rennefanz
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umdrehen, wieder zurück in den Westen oder nach Berlin fahren und dann wäre diese Szene alles, was vom Osten bliebe.
    Ein Mann steigt aus einem Auto mit der Aufschrift »Hausmeisterdienst Fleißiges Bienchen«. Er schleppt zwei Eimer in das Haus. Ich gehe entschlossen auf ihn zu und erzähle dem Mann, dass ich vor über zwanzig Jahren hier gewohnt habe. Ich würde gern noch mal ins Haus hineinschauen. Er zögert keine Sekunde und kommt meiner Bitte gern nach. Er öffnet die Tür, ich trete hinein. Es ist dunkel und ich stehe in dem kühlen, stillen Flur vor einem rot angestrichenen Metallkasten, an den ich mich nicht erinnere. Das Fleißige Bienchen plappert los: »Die haben hier einen Fahrstuhl reingebaut und da hamse natürlich gleich auf die Miete raufgeschlagen. 420 zahlen wir für die kleinen Buchten. 57 Quadratmeter, kein Fenster im Bad und in der Küche. Die ham neue Fenster reingemacht, sonst ist alles gleich geblieben.«
    Jetzt merke ich es. Es riecht noch immer wie früher, die Mischung aus Putzmitteln, Beton und kaltem Essen. Wie es das geben kann, nach all den Jahren. Die Putzmittel riechen doch heute ganz anders.
    Ich sehe mich mit meiner Reisetasche nach oben laufen, ein Mädchen vom Land, das sich gerade Locken hatte machen lassen, ein großer Fan der Dauerwelle. Ich ging in den dritten Stock rechts. Ich bedanke mich bei dem Fleißigen Bienchen und mache die Tür hinter mir zu. Ich atme aus.
    Ich mochte das Haus anfangs nicht. Es glich einer großen Bienenwabe, vollgestopft mit bedrohlich fremden Menschen, die treppauf und treppab liefen. Die Erzieherin brachte mich in die Wohnung im dritten Stock. Ich hatte eine Reisetasche dabei, Kleider für sechs Tage, Schulhefte, Federtasche, Schulbücher, ein Buch des Schriftstellers Guy de Maupassant. Ich sollte ja Französisch lernen und er war der einzige Franzose, den ich kannte. Er sollte mir in meiner neuen Heimat Gesellschaft leisten. Früher hatte ich Abenteuerromane gelesen. Jules Verne, Karl May, Mark Twain. Erst kürzlich hatte ich im Regal meiner Tante die klassischen französischen Roman-
ciers entdeckt. Ich verschlang die Bücher. Ich las überall, an der Bushaltestelle, im Bus, unter der Schulbank. Die Werke von Maupassant und Flaubert eröffneten mir eine neue Welt, voller interessanter Menschen, exotischer Orte, ungekannter Abgründe. Mich faszinierte, wie frei die Menschen sich bewegten, wie sie ihren Gelüsten und Wünschen nachgingen, ohne Vorschriften und Regeln.
    Ich hatte als Kind oft das Gefühl zu spät geboren worden zu sein, die interessanteste Zeit der Weltgeschichte, das 19. Jahrhundert, verpasst zu haben.
    Im September 1989, als Tausende junger Menschen, nur wenig älter als ich, in der westdeutschen Botschaft in Prag ihre Ausreise erzwingen wollten, zog ich vom Dorf in die Stadt. Eisenhüttenstadt ähnelte der DDR im Kleinen, die Stadt war ein Traum junger Leute gewesen. Zwei Generationen später glich sie einer Betonwüste.
    Ich war, so kam es mir vor, schon wieder zu spät gekommen.
    Als mich meine Eltern nach Eisenhüttenstadt gefahren hatten, war ich plötzlich von einer Angst erfasst worden. Ich fragte mich, auf was ich mich da eingelassen hatte, als ich mich um einen Platz an der Schule beworben hatte.
    Ich war ein Landkind, relativ frei aufgewachsen, ich hatte Angst vor Fremden. Und jetzt sollte ich die ganze Woche allein bleiben, mit lauter Fremden? Würde ich Freunde finden? Wie streng würden die Lehrer sein?
    Ich wurde mit drei anderen Neuen in ein Viererzimmer einquartiert. Es war spartanisch eingerichtet. Vier Betten standen in den Ecken, dazu ein Schrank, in der Mitte ein großer Tisch, an dem wir die Hausaufgaben machen sollten. Es war ungewohnt, mit drei Fremden das Zimmer zu teilen, aber die anderen sahen genauso schüchtern und unsicher aus wie ich. Nancy, Jacqueline und Ina. Nancy schleppte einen Kassettenrecorder aus dem Westen. Jacqueline hatte auch eine Dauerwelle.
    Vier ältere Mädchen schlenderten durch das Wohnzimmer, unser Zimmer, als wären wir gar nicht da, und stellten sich auf den Balkon. Sie rauchten. Später kamen sie wieder durch und musterten uns ein wenig verächtlich, wie ich fand. Welche Klassenlehrerin habt ihr?, fragte ein hübsches Mädchen mit dunklen, lockigen Haaren.
    Ich sagte: Frau Wilke.
    Die Lockige sagte: Oh.
    Die Älteren tauten allmählich auf, warnten uns vor dieser Frau Wilke, sie sei unnahbar, kühl. Der beste Lehrer der Schule, das sei ein gewisser Herr Weise, der
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