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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen
Autoren: Siegfried Lenz
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Er zwingt Senta ein Glas in die Hand, tritt zurück, hebt ihr das eigene Glas entgegen und steht so gegen das unerträgliche Licht und atmet seufzend aus. Also auf das, was hinter uns liegt. Bestanden, fragt sie abermals, und er darauf: Mit Auszeichnung! Jan trinkt mit zurückgelegtem Kopf, mit geschlossenen Augen. Senta führt das Glas an die Lippen, sieht, wie das Glas zittert, und stellt es schnell ab, ohne getrunken zu haben. So, und nun kannst du mir gratulieren, sagt Jan, und sie preßt sich gegen den gedrungenen Mann und will anscheinend nicht aufhören, ihn auf eine Weise zu umarmen, die seinen Stand nicht gerade leicht macht; fast sieht es so aus, als würge sie ihn von vorn. Sie drückt ihn gegen die Platte des Küchentisches. Sie küßt ihn. Jan schiebt sein Glas weit von sich. Ich freu mich, Jan, oh, ich freu mich. Blumen sind schon für dich da. Er löst ihre Finger in seinem Nacken, zieht sie nach vorn, und jetzt lächelt er: Alles bereit für die Feier? Alles, sagt Senta. Dann komm, komm, du mußt zuerst hören, wie es ging -
      Sie sitzen auf den geplatzten Lederpuffs vor dem kleinen Rundtisch, sie haben die Gläser ausgetrunken und wieder gefüllt, sie halten sich bei den Händen, als gelte es, etwas durchzustehn. Du hättest Jäger erleben müssen, sagt Jan, er wollte es mir nicht leicht machen, er begann gleich mit seinem Lieblingsthema: die deutsche Kritik. Lessing, fragt Senta. Schlegel, sagt Jan, das heißt, doch Lessing, na, du weißt: Schlegels Besprechung von Lessings »Vom Wesen der Kritik«; da konnte ich ihm etwas erzählen. Geht's dir nicht gut?
      Senta drückt ihre Zigarette aus, sie steht plötzlich auf und geht zum offenen Fenster und preßt gleich darauf ihre Hände auf ihren Unterleib. Senta? Ja, sagt sie, ja. Sie hat Tränen in den Augen, als hätte sie ihr Gesicht in einen kalten Wind gehalten. Es ist nichts, Jan, ich bekomm nur so schwer Luft auf einmal. Trink etwas. Er reicht ihr sein Glas, sie trinkt einen Schluck, setzt sich und sieht ihn fragend an: Und Barockdichtung? Die ist gar nicht drangekommen; aber rat mal, wo der alte Pörschke mich reinlegen wollte, nachdem ich Jäger sehr gut bedient hatte. Na? In der Klassik, ich sollte ihm das Kunstideal der Klassik beschreiben, und ich holte weit aus beim Sturm und Drang, Natur- und Gefühlsschwärmerei, weißt schon, und wie die überwunden wurden. Ich wußte gar nicht, daß Pörschke nur drei Worte hören wollte, du hast sie mitgeschrieben damals in seiner Vorlesung, aber ich kam nicht drauf, ich immer bloß von Schönheit als Harmonie zwischen sinnlichem Trieb und dem Gesetz der Vernunft, aber das war's nicht. Und auf einmal fiel mir ein, was du mir unter der Brause sagtest, als du mich abgeseift hast, weißt du noch? Bändigung, Formung, Normung. Du bist ganz blaß, Senta.
      Senta springt auf, läuft zur Toilette, sie schließt die Tür von innen ab, kniet sich hin und legt die Arme auf den Rand des Beckens und übergibt sich. Ein plötzlicher Schmerz im Hinterkopf, ein spannender Schmerz über den Schläfen halten sie in kniender Stellung fest, ihre Augen tränen heftig, der Druck läßt nach. Sie steht im Dunkeln auf und macht Licht. Sie blickt in den Spiegel über dem kleinen Ausguß und spürt, daß sie sich gleich wird wieder übergeben müssen. Das Schwindelgefühl ist so stark, daß sie sich mit einer Hand am Ausguß festhält, während sie sich mit der andern das Gesicht wäscht. Senta, ruft Jan, was ist passiert? Sie antwortet nicht, spült zuerst ihren Mund aus, dann öffnet sie die Tür. Du schwankst ja, Senta, hast du Fieber?
      Jan stützt sie und führt sie langsam zur Couch. Er legt sie hin und hebt ihre Beine herauf. Es tut mir leid, Jan, es tut mir so leid. Bleib nur liegen, sagt er, ein paar Minuten, dann ist es vorbei. Es kommt wieder, Jan, ich spür es. Was meinst du? Mir ist so schlecht. Jan steht rauchend vor der Couch, in einer Hand ein Glas, er sieht, wie ein Schüttelfrost ihre Haut aufrauht, hört ihren angestrengten Atem. Du kannst uns doch nicht krank werden, sagt er, ausgerechnet heute; du willst doch wohl kein Spielverderber sein. Es tut mir so leid, Jan. Er setzt sich auf den Couchrand, stellt das Glas ab, legt eine Hand auf ihre zuckende Schulter und glaubt auf einmal einen unbekannten Ausdruck dieses Gesichts zu entdecken, einen Ausdruck schlimmer Erleichterung oder Unterwerfung, und er fährt leicht, beinahe andeutend über Sentas Gesicht, gerade so, als wolle er diesen Ausdruck
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