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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen
Autoren: Siegfried Lenz
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Das Examen

    Seht, da steigt Jan Stasny auf die Rolltreppe des neuen UBahnschachts, dreht sich um und winkt, während er stetig nach unten fährt, zu seiner Frau und ehemaligen Kommilitonin hinauf, die im grünen Pullover am Wohnungsfenster steht und nicht nur das Winken erwidert, sondern auch den rechten Daumen in die Handfläche einschlägt und die Hand schüttelt, was von unten so aussieht, als klopfe sie gegen das Fenster. Er weiß, was sie meint; der gedrungene Mann mit dem schwarzblauen Haar und den Kalmückenaugen weiß, was sie ihm mitgeben möchte für das große mündliche Examen, dem er jetzt schwarzgekleidet entgegenfährt, mit der Kollegmappe unterm Arm, in der heute nur Zigaretten drin sind und ein leerer Notizblock. Er lächelt, deutet Zuversicht an im Hinabfahren, zuletzt gelingt ihm noch eine schnelle Geste der Beschwichtigung, so mit flatternder Hand in die Luft gezeichnet wie von einem Ertrinkenden, dessen Kopf schon untergetaucht ist: sei ganz ruhig, du weißt, daß es gut gehen wird, sei nur ruhig. Also es hat begonnen. Sie will sich wegdrehen vom Fenster, da erkennt sie, daß ihr Winken aufgenommen und erwidert wird: dort, auf der ausgefahrenen Plattform des Spezialwagens, hoch unter den Peitschenlampen, denen neue Leuchtröhren eingesetzt werden, stehen zwei Kerle mit bloßem Oberkörper und winken und laden sie durch Zeichen ein, auf die mit rotweißem Stoff umkleidete Plattform hinabzuspringen. Die Hitze kocht über dem Asphalt, zittert über dem Metall der Peitschenlaternen. Komm doch, wir fahren ganz nah unters Fenster, wenn's sein muß, wir fangen dich auf. Sie antwortet mit angestrengter Achtlosigkeit, tritt zurück, schließt die Augen vor der Sonne, die von den hellen Häuserwänden drüben zurückgeworfen wird. War das die Türklingel?
    Guten Tag, Mutter, ja, Jan ist schon fort, jetzt geht's los,
    komm, gib mir die Tasche, du kannst gleich hier anfangen, im Wohnzimmer; doch zuerst ruh dich aus. Die Mutter schiebt sich an den Ausstellungsplakaten moderner Photographie vorbei, setzt den Hut ab, legt ihn auf eines der Buchregale, die aus Ziegelsteinen und selbstzugeschnittenen, weißlackierten Brettern bestehen. Sie fährt mit der Hand über eine weibliche Kleiderpuppe, die eine angemalte Admiralsuniform trägt. Hast du das gemacht, Senta? Ich hab sie Jan zum Geburtstag geschenkt. Dort, der kleine Rundtisch, von Büchern und gläubig vollgeschriebenen Kollegheften bedeckt, die fleckigen Teetassen, auf deren Grund bräunlich angelaufene Zitronenscheiben liegen: Wir haben Jan noch einmal abgehört, Mutter, gestern nachmittag, gestern abend; Charles sagte: Jan wird summa cum laude bestehen, jedenfalls ohne Schwierigkeiten. Heute abend ist alles vorbei.
      Die Mutter weicht mit übertriebener Vorsicht dem Plattenspieler aus, der auf den harten Kokosläufern steht, mit denen das ganze Zimmer ausgelegt ist und die weiterlaufen in den durch einen zu kurzen Vorhang abgetrennten Nebenraum. Auf dem selbstgebauten Nachttisch neben der Couch würgt ein unternehmungslustiger Schlips ein mit bunten Glasmurmeln gefülltes Bonbonglas. Ein Reisewecker hält ein aufgeschlagenes Buch unter Druck. Senta steckt sich eine Zigarette an, rollt das Bettzeug zusammen, drückt und knetet es in einen Bettkasten hinein und streicht die Decke über der Couch glatt. Hast du all die Zigaretten geraucht? Charles war hier und Heiner, wir haben bis in die Nacht gebüffelt. Ab heute ändert sich das alles.
      Der enge grüne Pullover ist unter den Achseln verfilzt, geschwärzt von Schweiß, der Hosenboden über dem schmalen, harten Hintern ist blankgesessen auf den formlosen Lederpuffs, die an einigen Nähten aufgeplatzt sind, als wollten sie sich übergeben: die Mutter sieht es, während Senta, die Zigarette zwischen den Lippen, in beherrschtem Winkel über der Couch arbeitet, barfuß, denn ihr machen die rauhen Kokosfasern nichts aus. Ob du's glaubst oder nicht, Mammi, vier Monate war ich nicht beim Friseur.
      Woher habt ihr denn das, fragt die Mutter. Auf einem hängenden Regal, zwischen Stofftieren, zwischen selbstgesammelten Muscheln und kleinen Messingglocken, die von einem Pferdegeschirr stammen, steht ein Schnitzwerk, steht, dreifarbig und wirkungsvoll koloriert, die Heilige Familie, ein schmaläugiger Josef, eine breitwangige Maria, die fassungslos einem betagten Jesuskind lauschen, das seinen Eltern etwas vorliest und offensichtlich die Züge von Jan trägt: das scharfe Profil, die ruhig fordernden Blicke
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