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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen
Autoren: Siegfried Lenz
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Sechs Baracken stehen um das Hauptgebäude herum. Für alle genügt eine Fahnenstange.
      Der junge Zöllner hebt sein Fahrrad in den Ständer, blockiert das Hinterrad und geht über den leeren, sandigen Platz zu seiner Baracke, um sich zum Dienst zu melden. Im trüben Korridor, der an den Gang eines uralten Schiffes erinnert, trifft er Reinhart, der mit ihm zusammen die Prüfung bestanden hat, und der sich, wie er, zum Dienst melden will. Der junge Zöllner fragt Reinhart: Wie geht's dem Lütten? Reinharts einziger Sohn hat ein Metallputzmittel getrunken und liegt im Krankenhaus. Etwas besser, sagt Reinhart. Sie gehen ins Büro. Alex hat Aufsicht. Gott sei Dank soll der alte Hund bald einen Tritt bekommen und in Pension geschickt werden. Das Büro ist ein langgestreckter Raum mit niedriger Decke; ein schwarzer Kanonenofen steht da, ein Besucherstuhl, zwei Hocker, an einer Wand haben sie eine Spindreihe aufgehängt. Alex raucht nicht, trinkt und hustet nicht. Er redet vorsichtig. Die dringenden Fragen stellt er mit den Augen. Keiner hat ihn je fluchen hören, und wenn er seinen Kaffee aus dicker Porzellantasse trinkt, spreizt er fein den kleinen Finger weg. Er lebt mit seiner Schwester zusammen und läßt sich von ihr die Stullen schmieren. Solange er noch hier herumsitzt mit seinen blankgewetzten Hosen, ist er Manteuffels Vertreter. Manteuffel selbst hockt zum Glück im Hauptgebäude, der kann jeden verrückt machen mit seiner Leidenschaft für sogenannte innere und äußere Sauberkeit und ähnliche Scherze.
      Der junge Zöllner grüßt Alex, tritt an ein Schlüsselbrett und nimmt den Schlüssel zu seinem Spind. Er schließt sein Spind auf, das noch nicht vollgestopft ist wie die Spinde der älteren Zöllner, die darin warme Schals, Tabak und sogar Hustensaft aufheben. Er langt tief hinein, taucht fast mit der rechten Schulter ins Spind und schnappt sich das verkratzte Lederetui mit dem Fernglas. Er zieht das Etui am Riemen heraus; das Etui fällt, schlägt gegen seinen Schenkel, er fängt es mit dem Riemen auf. Der junge Zöllner kehrt Alex den Rücken zu und öffnet das Etui. Das Etui ist leer. Hastig durchsucht er das Spind, tastet und klopft es ab, aber außer ein paar Merkblättern und ähnlichem Mist ist nichts drin. Das Fernglas ist weg. Alex hat schon gehört, wie er mit der flachen Hand das Spind abklopfte. Jetzt äugt er erstaunt zu dem jungen Zöllner herüber. Ist was, fragt er, und noch einmal: Suchst du was? Der junge Zöllner schüttelt den Kopf. Vorsichtig schließt er das leere Etui, hebt den Riemen über den Kopf, läßt das Etui vor seiner Brust baumeln. Alles in Ordnung, sagt er und schließt langsam das Spind ab und hängt den Schlüssel ans Brett. Das Etui ist sehr leicht. Es hüpft vor seiner Brust. Er legt eine Hand darauf und drückt es nach unten. Aus den Augenwinkeln sieht er zu Reinhart hinüber, der immer noch vor seinem Spind steht. Reinhart hat sein überscharfes Fernglas vor der Brust hängen und liest eines der kleingedruckten Merkblätter, die jedem auf die Nerven gehen. Der junge Zöllner geht zum Schreibtisch, wartet schweigend, bis Alex die Kopien der Anforderungsliste gelocht und abgeheftet hat, dann sagt er: Ich nehm den Strand bis zur Mole und das Grenzstück im Wald. Wie gestern. Während er spricht, hält er das leere Etui fest. Alex nickt, ohne aufzusehen. Er radiert. Er radiert mit weichen Fingern und pustet die dreckigen Gummikrümel so über den Tisch, daß sie in den Papierkorb fallen. Ich hab's verstanden, sagt Alex und dreht sich nach Reinhart um, der mit dem Merkblatt nicht fertig wird. Du nimmst die Bucht, sagt er zu Reinhart, und sagt auch: Hier ist noch was für dich, worauf Reinhart nur grunzt und lesend näher kommt.
      Die Hand auf dem zerschrammten Etui, verläßt der junge Zöllner mit einem Kopfnicken seine Dienststelle. Auf dem Korridor lauscht er einen Augenblick und hat wohl das Gefühl, daß sie auch drinnen lauschen, darum latscht er aus der Baracke. Er geht langsam über den leeren, sandigen Platz zum Fahrradständer. Bevor er sein Fahrrad heraushebt, grüßt ihn so ein vergnügter, rotwangiger Kerl, der immer auftritt wie unter Festbeleuchtung. Manteuffel kreuzt immer auf, wenn man ihn nicht braucht. Wieder eingelebt, Tabert, fragt er, und der junge Zöllner erschrickt und sagt nur: Ja. Manteuffel ist damit zufrieden. Er hat's eilig wie immer und rudert zur Materialbaracke rüber. Wenn der mal einen Flecken im Anzug hat, ist er für jede Arbeit
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