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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen
Autoren: Siegfried Lenz
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alles in zwei Pappkartons gepackt hat, was die Examensfeier erst zur Feier machen soll; für Senta bleibt nur das Netz, das ihr noch nie so schwer erschienen ist wie an diesem Tag. Da ist ein Schmerz in der Schulter und im Ellenbogengelenk, und der verstärkte Griff des Netzes in ihrer Hand brennt sich in die Haut ein. Nicht so schnell, Charles, sagt Senta. Sie bleibt stehn. Sie lehnt sich an einen Fahrradständer, bläst mit vorgeschobener Unterlippe über ihr Gesicht. Es geht schon wieder.
      Nebeneinander überqueren sie die Straße, und im Hausflur setzt Senta sich auf eine Treppenstufe und fordert Charles auf, die Kartons abzustellen, doch da er sie gerade im Griff hat, wie er sagt, trägt er sie nach oben und stellt sie vor der Tür ab. Sie hört ihn langsam herabkommen. Er sagt: Dir scheint's wirklich mies zu gehn. Er sagt auch: Soll ich das Netz raufbringen? Sie schüttelt den Kopf, zieht sich am Treppenpfosten hoch, winkt Charles' Gesicht lächelnd zu sich herunter und küßt ihn auf die Wange. Danke, bis nachher. Er bleibt stehn und beobachtet Senta, während sie die Treppe hinaufsteigt, er wartet, bis sie den Treppenabsatz erreicht hat, jetzt winken sie sich noch einmal zu.
      Zweimal muß sie den Schlüssel im Schloß umdrehn, also ist ihre Mutter schon gegangen; dort auf dem Küchentisch liegt ein Zettel. Sie legt sich auf die Couch, zündet sich eine Zigarette an, liest den Zettel noch einmal und blickt auf den Rauch der Zigarette, den die Zugluft flach wegreißt. Liegend zieht sie den Rock aus, hebt ihn mit dem Fuß hoch; eine berechnete, wischende Bewegung, und der Rock landet auf einem Lederpuff. Dies fiepende Geräusch, wie wenn Luft stoßweise aus einem Schlauch entweicht. Senta horcht auf das Geräusch, räuspert sich, hustet und steht auf.
      Können Sie mir Beispiele dafür nennen, in welcher Form das klassische Motiv der Goldenen Kette in der Literatur wieder aufgenommen wird? Senta geht ins Badezimmer, zieht sich aus, angelt eine blauweiße Badekappe von der Brause herunter, über die Jan lachen mußte, als er sie zum ersten Mal damit sah, und später immer wieder lachte, wenn sie das Ding aufsetzte: Weißt du, wie du aussiehst? Wie ein Seehund, der sich als Husar verkleidet hat. Sie zwängt das Haar sorgfältig unter die Kappe, stellt die Brause an, sieht die Kachelwand Glanz gewinnen unter der scharfen Schraffur des Wasserstrahls, der stäubend auf dem Boden zerspringt. Die Zigarette ist vom Rand der Seifenschale herabgefallen, das Wasser schwemmt sie zum Abfluß, löst das Papier und spült die Tabakfasern fort. Senta tritt unter den Strahl und hebt die Arme. War das die Türklingel? Im Bademantel geht sie zur Tür, öffnet; auf der Fußmatte liegt ein Blumenstrauß, ein Brief für Jan ist angepinnt. Jetzt wird es Zeit; Senta zieht sich vor dem großen Schrankspiegel an, rauchend, überlegend, wo sie zuletzt die Beschreibung eines Mädchens gelesen hat, das sich vor dem Spiegel anzieht. Sie hat das Gefühl, eine fremde Person nachzuahmen. Sie kämmt und legt ihr Haar und bindet ein neues Stirnband um. So, wie sie jetzt auf sich zutritt in dem hellgrünen Kleid, schmal, hochhüftig, schwankend zwischen Skepsis und Einverständnis, hat es das Mädchen im Roman auch getan, bevor es zur Gerichtsverhandlung ging, um gegen ihren ehemaligen Lehrer auszusagen. Ich muß was essen, vielleicht einen Apfel, wenn der nicht alles verschmiert. Sie stellt den Transistor an, hört die letzten Takte von »Up, up and away«, trägt den Transistor in die Küche, um die Kartons und das Netz auszupacken.
      Auf einmal hält sie inne, tritt, zwei Flaschen in der Hand, auf den Flur, blickt auf das Schlüsselloch, erkennt, daß da vorsichtig ein Schlüssel hereingeschoben wird: es muß Jan sein.
      Sie läuft in die Küche, stellt die Musik lauter: sie wird ihn nicht gehört haben, sie wird sehr überrascht sein. Ja? Jan, was ist: Ja oder Nein? Warum sagst du nichts? Da kommt also Jan, schiebt sich blicklos an ihr vorbei, er trägt sein Jackett unterm Arm, wirft die Kollegmappe auf den Küchentisch. Sag doch, was ist? Er gibt nichts preis, sein Gesicht verrät nichts, die dunklen Kalmückenaugen gestehen nichts ein, aus seinen Gesten ist nichts zu erfahren. Wie läßt sich diese Ruhe auslegen, mit der er den Küchenschrank öffnet, zwei Gläser herausnimmt; was besagt sein Schweigen, das er nicht aufgibt, während er die Gläser mit Sprudel und Korn füllt? Bestanden, Jan, nicht, du hast doch bestanden?
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