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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman
Autoren: Jennifer Egan
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    Fundstücke
    Es fing an wie üblich, auf der Damentoilette des Lassimo-Hotels. Sasha tupfte gerade vor dem Spiegel ihren gelben Lidschatten nach, als sie neben dem Waschbecken auf dem Boden eine Tasche bemerkte, sicher die der Frau, deren Pinkeln sie durch die massive Tür der Kabine vage hören konnte. Oben in der Tasche steckte, gerade noch erkennbar, eine Brieftasche aus verblasstem grünen Leder. Im Rückblick war es für Sasha sonnenklar, dass das blinde Vertrauen der Frau sie provoziert haben musste: Wir leben in einer Stadt, wo die Leute dir die Haare vom Kopf stehlen, wenn du ihnen auch nur die geringste Gelegenheit gibst, und du lässt deinen Kram in aller Öffentlichkeit herumliegen und glaubst, dass er bei deiner Rückkehr noch auf dich wartet? Dieses Verhalten löste in ihr den Drang aus, der Frau eine Lehre zu erteilen. Aber dieser Wunsch war nur ein Vorwand, hinter dem sich das Gefühl verbarg, das Sasha dabei immer überkam: diese pralle, zarte Brieftasche, die sich ihrer Hand darbot – es wäre zu langweilig, zu alltäglich, sie einfach liegen zu lassen, statt den Moment beim Schopf zu packen, die Herausforderung anzunehmen, den Sprung zu machen, den Wurf zu wagen, alle Vorsicht in den Wind zu schlagen, gefährlich zu leben (»Schon verstanden«, sagte Coz, ihr Therapeut) und sich das Scheißteil endlich zu schnappen.
    »Sie meinen, sie zu stehlen.«
    Er versuchte, Sasha zur Verwendung dieses Wortes zu bewegen, und im Fall einer Brieftasche war es in der Tat schwerer zu vermeiden als bei vielen der Gegenstände, die sie im vergangenen Jahr hatte mitgehen lassen, als ihr Zustand (wie Coz es nannte) zunehmend aus dem Ruder lief: fünf Schlüsselbunde, vierzehn Sonnenbrillen, einen gestreiften Kinderschal, ein Fernglas, einen Käsehobel, ein Taschenmesser, achtundzwanzig Stück Seife und fünfundachtzig Kugelschreiber, von Billigkulis, mit denen sie Kreditkartenbelege unterschrieb, bis hin zu dem violetten Visconti, der im Internet zweihundertsechzig Dollar kostete und den sie dem Anwalt ihres Exchefs während einer Vertragsverhandlung gemopst hatte. Sasha nahm nichts mehr aus Läden mit – die kalten, leblosen Gegenstände dort stellten keine Verlockung dar. Sie stahl nur von Menschen.
    »Meinetwegen«, sagte sie. »Dann eben stehlen.«
    Sasha und Coz hatten dieses Gefühl, das sie dabei hatte, die »persönliche Herausforderung« getauft: Die Brieftasche zu stehlen, bot für Sasha eine Möglichkeit, sich als starkes Individuum zu behaupten. Also mussten sie die Verhaltensmuster in ihrem Kopf umpolen, damit die Herausforderung nicht mehr darin bestünde, die Brieftasche zu stehlen, sondern darin, sie liegen zu lassen. Nur so könnte sie Heilung finden, auch wenn Coz niemals Wörter wie »Heilung« in den Mund nahm. Er trug immer lässige Pullover und ließ sich von ihr Coz nennen, aber er war ein undurchschaubarer Typ der alten Schule, und das ging so weit, dass Sasha nicht wusste, ob er schwul oder hetero war, ob er berühmte Bücher geschrieben hatte oder ob (wie sie manchmal vermutete) er einer von diesen ausgebrochenen Häftlingen war, die sich als Chirurg ausgeben und anschließend die Operationsinstrumente im Kopf ihrer Patienten vergessen. Natürlich hätte sie die Antworten auf diese Fragen in weniger als einer Minute googeln können, aber es waren nützliche Fragen (meinte Coz), und bisher hatte Sasha dieser Versuchung widerstanden.
    Die Couch in seinem Sprechzimmer, auf der sie immer lag, war aus blauem Leder und sehr weich. Coz mochte diese Couch, wie er ihr einmal sagte, weil sie ihnen beiden belastenden Blickkontakt ersparte. »Sie mögen keinen Blickkontakt?«, hatte Sasha gefragt. Für einen Therapeuten war das ein seltsames Geständnis.
    »Ich finde ihn ermüdend«, sagte er. »Und so können wir beide hinschauen, wohin wir wollen.«
    »Wohin soll man schon groß schauen?«
    Er lächelte. »Sie sehen ja, welche Möglichkeiten ich habe.«
    »Und wohin schauen Sie normalerweise? Wenn jemand auf der Couch liegt.«
    »Ich schau mich im Zimmer um«, sagte Coz. »An die Decke. Ins All.«
    »Schlafen Sie manchmal dabei ein?«
    »Nein.«
    Sasha betrachtete meistens das Fenster zur Straße. Als sie an diesem Abend mit ihrer Geschichte fortfuhr, lief Regen daran herunter. Sie hatte die Brieftasche gesehen, zart und überreif wie ein Pfirsich. Sie hatte sie aus der Tasche der Frau gepflückt und in ihre eigene kleine Handtasche fallen lassen, und sie hatte den Reißverschluss ihrer Handtasche
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