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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir
Autoren: S Jio
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seinen unappetitlichen Begleiterscheinungen. Er sprach eine Seite in mir an, die ich bis dahin nie hatte ausleben können, das Bedürfnis, anderen Menschen auf eine Weise zu helfen und beizustehen, die nichts mit Geld zu tun hatte.
    Maxine räusperte sich. »Ich wollte gerade gehen«, sagte sie zu meinem Vater und hob das Tablett auf. »Kann ich Ihnen irgendetwas bringen, Mr. Calloway?«
    »Nein, danke, Maxine«, sagte er, »im Moment nicht.« Es gefiel mir, wie höflich er immer mit ihr umging, nicht so forsch und ungeduldig wie meine Mutter.
    Maxine nickte und ging zurück ins Haus.
    Kitty schaute meinen Vater besorgt an. »Mr. Calloway?«
    »Ja, Kitty?«
    »Ich habe gehört, dass wieder Männer zum Kriegsdienst eingezogen werden«, sagte sie und schluckte. »Ich habe es im Zug in der Zeitung gelesen. Wissen Sie vielleicht, ob auch Männer aus Seattle betroffen sind?«
    »Tja, es ist noch ein bisschen früh, um das zu sagen, Kitty Cat«, antwortete mein Vater. Den Spitznamen hatte er ihr gegeben, als wir in die Grundschule gingen. »Aber so wie die Dinge sich derzeit in Europa entwickeln, schätze ich, dass wir noch einige Männer in den Krieg schicken werden. Eben habe ich zufällig Stephen Radcliffe in der Stadt getroffen und von ihm erfahren, dass die Larson-Zwillinge am Donnerstag aufbrechen.«
    Ich spürte, wie es mir die Brust zuschnürte. »Terry und Larry?«
    Mein Vater nickte ernst.
    Die Zwillinge, ein Jahr jünger als Kitty und ich, zogen in den Krieg. Krieg . Unvorstellbar. Hatten sie mich nicht erst gestern in der Grundschule an den Zöpfen gezogen? Terry war schüchtern und hatte ein sommersprossiges Gesicht. Larry war ein bisschen größer, hatte weniger Sommersprossen und war der geborene Clown. Sie waren beide rothaarig und beinahe unzertrennlich. Ich fragte mich, ob man ihnen erlauben würde, nebeneinander auf dem Schlachtfeld zu stehen. Ich schloss die Augen und versuchte, den Gedanken zu verscheuchen, aber es gelang mir nicht. Schlachtfeld .
    Mein Vater las meine Gedanken. »Falls du befürchtest, dass Gerard eingezogen wird, kann ich dich beruhigen«, sagte er.
    Ich konnte mir Gerard, obwohl er groß und kräftig war, beim besten Willen nicht anders vorstellen als in einem eleganten Anzug in der Bank. Aber sosehr ich ihm auch wünschte, dass ihm der Kriegsdienst erspart blieb, so sehnte ich mich andererseits danach, ihn in Uniform zu sehen und zu erleben, dass er für etwas anderes als Geld kämpfte.
    »Seine Familie spielt eine zu wichtige Rolle in der Gemeinde«, fuhr mein Vater fort. »George Godfrey wird dafür sorgen, dass sein Sohn nicht eingezogen wird.«
    Ich geriet in einen inneren Konflikt, der mir unangenehm war – einerseits erleichterte es mich zu wissen, dass Gerard durch den Einfluss seines Vaters geschützt war, andererseits empörte es mich. Es war nicht recht, dass die Männer aus den armen Familien für die Nation in den Krieg ziehen mussten, während die wenigen privilegierten aus nichtigen Gründen vom Kriegsdienst verschont blieben. Sicher, George Godfrey war, wenn er auch inzwischen alt und krank war, ein mächtiger Bankier und ehemaliger Senator, und Gerard würde bald seinen Posten in der Bank übernehmen. Trotzdem war es ein quälender Gedanke , dass die Larson-Zwillinge mitten im Winter irgendwo in Europa in einem Bunker hockten, während Gerard in einem geheizten Büro in einem bequemen Ledersessel saß.
    Mein Vater sah mir meine Gefühle an. »Bitte, mach dir keine Sorgen«, sagte er.
    Kitty betrachtete ihre Hände, die sie auf dem Schoß verschränkt hatte. Ich fragte mich, ob sie gerade an Mr. Gelfman dachte. Würde er auch eingezogen werden? Er war höchstens achtunddreißig, sicherlich jung genug, um als Soldat zu kämpfen. Ich seufzte und wünschte, ich könnte den Krieg mit reiner Willenskraft beenden. Die beunruhigenden Nachrichten aus Europa überschatteten alles, selbst den schönsten Sommernachmittag.
    »Deine Mutter geht heute Abend aus, Anne«, sagte mein Vater und schaute zum Haus hinüber. In seinen Augen lag ein Anflug von Besorgnis, der aber wieder verschwunden war, als unsere Blicke sich begegneten. »Würdet ihr beiden jungen Damen mir beim Dinner Gesellschaft leisten?«
    Kitty schüttelte den Kopf. »Ich habe schon etwas vor«, sagte sie vage.
    »Tut mir leid, Papa«, sagte ich. »Ich bin mit Gerard zum Abendessen verabredet.«
    Er nickte und wirkte plötzlich wehmütig. »Aber natürlich, schließlich seid ihr erwachsen und selbstständig. Dabei
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