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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir
Autoren: S Jio
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bewusst, dass ich überhaupt nicht viel über sie wusste.
    »Ja«, sagte sie nachdenklich. »Sie hat einen jungen Mann geliebt, einen jungen Bauern aus Lyon. Die beiden waren ganz vernarrt ineinander. Aber unsere Eltern haben darauf gedrungen, dass sie sich einem anderen zuwandte, einem, der in der Fabrik ordentlich verdiente. Also hat sie den Bauern verlassen und den Fabrikarbeiter geheiratet.«
    »Gott, wie traurig«, sagte ich. »Hat sie den Bauern jemals wiedergesehen?«
    »Nein«, erwiderte Maxine. »Und sie ist schrecklich unglücklich geworden.«
    Ich stand auf und glättete mein Kleid aus blauem Crêpe de Chine, zu dem ich einen Gürtel trug, der ein bisschen zu eng saß. Meine Mutter hatte mir das Kleid aus Europa mitgebracht. Sie hatte ein Händchen dafür, mir Sachen zu kaufen, die mir zu klein waren. »Das ist wirklich traurig. Deine arme Schwester. Aber das hat nichts mit meinem Leben zu tun. Ich liebe Gerard. Für mich gibt es keinen anderen.«
    »Natürlich liebst du Gerard«, sagte Maxine und bückte sich, um eine Serviette aufzuheben, die ins Gras gefallen war. »Ihr seid zusammen aufgewachsen. Er ist wie ein Bru der für dich.«
    Bruder . Das Wort klang irgendwie unheimlich, vor allem, wenn es sich auf den Mann bezog, den ich heiraten wollte. Mich schauderte.
    »Liebes«, fuhr Maxine fort und lächelte mich an. »Es ist dein Leben und dein Herz. Und wenn du sagst, es gibt keinen anderen für dich, dann mag das stimmen. Ich sage nur, dass du dir vielleicht nicht genug Zeit gelassen hast, um ihn zu finden.«
    »Ihn?«
    »Den Richtigen«, erwiderte sie. »Deine große Liebe.« Sie sagte das so leichthin, als wartete die große Liebe auf jeden, der sich auf die Suche nach ihr machte.
    Mich fröstelte, was ich auf die Brise zurückführte, die eben aufgekommen war. Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an Märchen oder an Märchenprinzen. Ich glaube, dass Liebe etwas mit Entscheidung zu tun hat. Man lernt jemanden kennen, er gefällt einem, man entscheidet sich, ihn zu lieben. So einfach ist das.«
    Kitty verdrehte die Augen. »Gott, wie unromantisch «, sagte sie.
    »Und du, Maxine«, sagte ich. »Was ist mit dir? Hast du dich nie verliebt?«
    Sie wischte das Tablett mit einem Küchentuch ab. »Doch«, antwortete sie, ohne aufzublicken.
    Vor lauter Neugier kam ich gar nicht auf die Idee, dass die Erinnerung an den Mann für sie schmerzhaft sein könnte. »War er Amerikaner oder Franzose? Warum hast du ihn nicht geheiratet?«
    Maxine antwortete nicht gleich, und ich bereute meine Frage bereits. Doch dann sagte sie: »Ich habe ihn nicht geheiratet, weil er bereits verheiratet war.«
    Auf der Terrasse ertönten die Schritte meines Vaters. Eine Zigarre paffend, überquerte er den Rasen und kam auf uns zu. »Hallo, Kleine«, sagte er und lächelte mich an. »Ich hatte dich erst am Dienstag erwartet.«
    Ich erwiderte sein Lächeln. »Kitty hat mich überredet, früher zu kommen.«
    Ich hatte meine Kurse an der Portland State University im Frühjahr abgeschlossen, aber Kitty und ich waren noch zwei Monate länger geblieben, um eine Schwesternausbildung zu absolvieren, was unsere Eltern mit großer Sorge erfüllte, denn sie befürchteten, wir könnten unsere Ausbildung tatsächlich dazu benutzen, uns einen entsprechenden Job zu suchen.
    Gerard dagegen fand es amüsant, mit einer ausgebildeten Krankenschwester verlobt zu sein. Weder unsere Mütter noch andere Frauen, die wir kannten, arbeiteten. Er zog mich immer damit auf, dass der Chauffeur, der mich zur Schicht im Krankenhaus fahren müsste, mehr kosten würde, als ich je verdienen könnte, aber wenn es mein Herzenswunsch sei, eine weiße Haube zu tragen und Kranke zu pflegen, würde er mich unterstützen.
    In Wirklichkeit hätte ich überhaupt nicht sagen können, was mein Herzenswunsch war. Ich hatte die Schwesternausbildung gemacht, weil sie ein willkommenes Kontrastprogramm bildete zu allem, was ich an den Frauen in meiner Umgebung so verachtete – an meiner Mutter etwa, die sich für nichts als Dinnerpartys und die neueste Mode interessierte, und an meinen Schulfreundinnen, die nach dem Abschluss der Highschool monatelang in Paris oder Venedig im Luxus geschwelgt und sich einzig darum gesorgt hatten, ob sie einen reichen Ehemann finden würden, der ihnen den Lebensstil bot, den sie von klein auf gewohnt waren.
    Nein, in diese Schublade passte ich nicht. Sie raubte mir die Luft zum Atmen. Mich faszinierte der Beruf der Krankenschwester mit all
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