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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir
Autoren: S Jio
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den Brief in den Müll werfen und mich nicht weiter darum kümmern. Doch dann musste ich daran denken, was die Frau zum Schluss geschrieben hatte: »Sollten Sie noch einmal zu Besuch auf die Insel kommen, würde ich Ihnen gern etwas geben, das Ihnen gehört und das Sie vielleicht nach all den Jahren wiederhaben möchten.« Bei dem Gedanken schlug mein armes Herz schneller. Noch einmal auf die Insel fahren? Ich? In meinem Alter?
    »Grandma, alles in Ordnung?« Jennifer legte mir einen Arm um die Schultern.
    »Ja, sicher, es geht mir gut«, sagte ich und fasste mich wieder.
    »Möchtest du darüber reden?«
    Ich schüttelte den Kopf und schob den Brief in das Kreuzworträtselheft, das auf dem Tisch lag.
    Jennifer nahm ihre Handtasche und zog einen großen, braunen Umschlag daraus hervor, der ziemlich zerknittert und abgegriffen war. »Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte sie. »Eigentlich wollte ich damit noch warten, aber …« Sie holte tief Luft. »Aber ich glaube, es ist der richtige Moment.«
    Sie gab mir den Umschlag.
    »Was ist das?«
    »Sieh nach«, sagte sie.
    Ich hob die Lasche an und nahm einen Stapel Schwarz-Weiß-Fotos heraus. Das oberste erkannte ich sofort. »Das bin ja ich!«, rief ich aus und zeigte auf die junge Frau in Schwesterntracht. Im Hintergrund war eine Kokospalme zu sehen. Ach, wie hatte ich die Palmen bestaunt, als ich vor fast siebzig Jahren zum ersten Mal die Insel betreten hatte. Ich schaute Jennifer an. »Wo hast du die denn gefunden?«
    »Dad hat sie gefunden«, antwortete sie, während sie mich vorsichtig musterte. »Er hat ein paar alte Sachen aufgeräumt und sie in einem Karton entdeckt. Er hat mich gebeten, sie dir zu geben.«
    Voller freudiger Erregung betrachtete ich das nächste Foto. Es zeigte Kitty, meine Freundin aus Jugendzeiten, die am Strand auf einem umgedrehten Kanu saß, die Beine ausgestreckt wie ein Filmstar. Kitty hätte das Zeug gehabt, ein Filmstar zu werden. Ich spürte den vertrauten Schmerz bei dem Gedanken an meine alte Freundin, den Schmerz, den die Zeit nicht geheilt hatte.
    Es folgten viele weitere Fotos vom Strand, von den Bergen mit üppiger Vegetation. Als ich das letzte Foto in die Hand nahm, erstarrte ich. Westry. Mein Westry . Da stand er, den obersten Knopf an seiner Uniformjacke geöffnet, den Kopf leicht geneigt, die mit Palmwedeln gedeckte Hütte im Hintergrund. Unsere Hütte . Ich hatte im Lauf meines Lebens Tausende Fotos gemacht und die meisten längst vergessen. Aber nicht dieses. Ich erinnerte mich an alles – selbst an den Duft, der an jenem Abend in der Luft gelegen hatte, den Duft nach Meerwasser und Fresien, die im Mondlicht blühten. Ich erinnerte mich daran, wie ich mich gefühlt hatte, als mein Blick dem seinen durch den Sucher begegnet war, und an das, was danach passiert war.
    »Du hast ihn geliebt, nicht wahr, Grandma?«, fragte Jennifer so liebevoll, so entwaffnend, dass ich spürte, wie ich schwach wurde.
    »Ja«, sagte ich.
    »Denkst du immer noch an ihn?«
    Ich nickte. »Ja. Ich habe nie aufgehört, an ihn zu denken.«
    Jennifers Augen weiteten sich. »Was ist in Tahiti passiert, Grandma? Was ist mit diesem Mann passiert? Und der Brief – warum hat er dich so berührt?« Sie nahm meine Hand. »Erzähl’s mir. Bitte.«
    Ich nickte. Was konnte es schaden, wenn ich es ihr erzählte? Ich war eine alte Frau. Es würde keinerlei Konsequenzen haben, und wenn doch, würde ich schon damit zurechtkommen. Ich sehnte mich so sehr danach, diese alten Geheimnisse mit jemandem zu teilen, sie aufzuscheuchen wie Fledermäuse in einem verstaubten Dachboden. Ich fuhr mit einem Finger über meine goldene Halskette und nickte noch einmal. »Also gut, Liebes«, sagte ich. »Aber ich warne dich. Es ist kein Märchen.«
    Jennifer setzte sich in den Sessel neben mir. »Umso bes ser«, antwortete sie. »Märchen konnte ich noch nie leiden.«
    »Und die Geschichte ist teilweise ziemlich düster«, fügte ich hinzu, denn ich begann bereits, meine Entscheidung zu bereuen.
    Sie nickte. »Geht sie denn gut aus?«
    »Ich bin mir nicht sicher.«
    Jennifer sah mich verwirrt an.
    Ich hielt das Foto von Westry hoch. »Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.«

1
    August 1942
    K itty Morgan, das hast du jetzt nicht gesagt!« Ich knallte mein Glas mit eiskaltem Pfefferminztee so heftig auf den Tisch, dass es einen Sprung bekam. Meine Mutter würde sich freuen, dass ich keins von ihren Kristallgläsern benutzt hatte.
    »O doch, das habe ich gesagt«, erwiderte sie
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