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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir
Autoren: S Jio
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mit einem triumphierenden Grinsen. Kitty hatte ein herzförmiges Gesicht und blonde Locken, die sich auch mit noch so vielen Haarspangen nicht bändigen ließen, und eigentlich konnte man sich mit ihr nicht streiten. Aber mit diesem Thema brachte sie mich auf die Palme.
    »Mr. Gelfman ist verheiratet«, sagte ich empört.
    »James«, sagte sie betont gedehnt, »ist kreuzunglücklich. Wusstest du, dass seine Frau immer wieder wochenlang verschwindet? Und sie erzählt ihm noch nicht mal, wohin. Die interessiert sich mehr für ihre Katzen als für ihn.«
    Ich seufzte und setzte mich auf die Schaukel, die an dem gewaltigen Walnussbaum im Garten meiner Eltern hing. Kitty setzte sich neben mich, so wie früher, als wir noch Schulkinder waren. Ich schaute hoch in die Baumkrone, deren Laub schon leicht gelb verfärbt war, ein Vorbote des Herbstes. Warum musste sich alles ändern? Es kam mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass Kitty und ich Schulfreundinnen waren, Arm in Arm nach dem Unterricht nach Hause gingen, unsere Schulbücher auf dem Küchentisch ablegten und uns auf die Schaukel im Gar ten setzten, um bis zum Abendessen zu reden und zu kichern und einander unsere geheimsten Gedanken anzuvertrauen. Jetzt, mit einundzwanzig, waren wir erwachsen. Wir waren junge Frauen im Aufbruch – wohin, wussten wir damals natürlich beide noch nicht.
    »Kitty«, sagte ich und schaute sie an. »Kapierst du das nicht?«
    »Was soll ich kapieren?« Sie sah aus wie eine zarte Rose in ihrem Kleid mit all den rosafarbenen Rüschen und den blonden Locken, die in der feuchten Nachmittagsluft ihr Eigenleben zu führen schienen. Ich wollte sie vor Mr. Gelfman schützen, besser gesagt, vor jedem Mann, in den sie sich verlieben würde, denn keiner schien mir gut genug für meine beste Freundin – vor allem keiner, der verheiratet war.
    Ich räusperte mich. Wusste sie denn nicht, welchen Ruf Mr. Gelfman hatte? Sie musste sich doch an die Scharen von jungen Mädchen erinnern, die ihn auf der Highschool offen angehimmelt hatten, schließlich war er der attaktivste Lehrer der Schule gewesen. Im Englischunterricht hatten alle Mädchen an seinen Lippen gehangen, wenn er ein Gedicht von Elizabeth Barrett Browning vorlas. Okay, damals war es Spiel gewesen. Aber hatte Kitty vergessen, was vor fünf Jahren mit Kathleen Mansfield passiert war? Wie war das möglich? Kathleen – schüchtern, vollbusig, sträflich naiv – war in Mr. Gelfmans Bann geraten. In der Mittagszeit drückte sie sich vor dem Lehrerzimmer herum, und nach dem Unterricht wartete sie auf ihn vor der Schule. Alle tuschelten über die beiden, vor allem, nachdem eine unserer Freundinnen Kathleen und Mr. Gelfman eines Abends zusammen im Park gesehen hatte. Dann kam Kathleen plötzlich nicht mehr zur Schule. Ihr älterer Bruder erzählte, sie sei zu ihrer Großmutter nach Iowa gezogen. Wir alle kannten den Grund.
    Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Kitty, Männer wie Mr. Gelfman haben nur ein Ziel, und ich glaube, wir wissen beide, welches.«
    Kitty lief puterrot an. »Anne Calloway! Wie kannst du nur unterstellen, dass James und ich …«
    »Ich unterstelle überhaupt nichts«, sagte ich. »Aber du bist meine beste Freundin, und ich möchte nun einmal nicht, dass du dich ins Unglück stürzt.«
    Kitty schlenkerte niedergeschlagen mit den Beinen, während wir eine Weile wortlos schaukelten. Heimlich berührte ich den Brief, der sich in der Tasche meines Kleids befand. Ich hatte ihn am Morgen bei der Post abgeholt und konnte es kaum erwarten, mich auf mein Zimmer zu verziehen, um ihn zu lesen. Er war von Norah, einer Freundin von der Schwesternschule, die mir wöchent lich aus dem Südpazifik berichtete, wo sie als Lazarettschwester stationiert war. Norah und Kitty, beide hitzköpfig, hatten sich im letzten Halbjahr unserer Ausbildung zerstritten, und deswegen erzählte ich Kitty lieber nichts von den Briefen. Außerdem scheute ich mich zuzugeben, wie sehr mich alles faszinierte, was Norah mir über den Krieg und die Tropen erzählte. Ihre Briefe lasen sich wie die Kapitel eines Romans, und sie zogen mich so sehr in ihren Bann, dass ich davon träumte, mich als Lazarettschwester im Südpazifik zu bewerben, um dem Leben in Seattle zu entfliehen und die anstehenden Entscheidun gen noch ein bisschen aufzuschieben. Natürlich war es nur ein Tagtraum. Schließlich konnte ich auch zu Hause in Washington meinen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen leisten, indem ich ehrenamtlich im
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