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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir
Autoren: S Jio
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einmal in den Händen gehalten hatte. Ich sehnte mich danach, es noch einmal zu sehen, aber obwohl ich jahrzehntelang mit Galeristen und Sammlern zusammengearbeitet hatte, war das Bild nie wieder aufgetaucht.
    »Ich weiß, dass es schwerfällt loszulassen, Liebes«, sagte ich vorsichtig, denn mir war klar, wie wichtig das Projekt für sie war. Ich schob meine Hand in ihre. »Manche Geschichten sind einfach nicht dazu bestimmt, erzählt zu werden.«
    Jennifer nickte. »Vielleicht hast du recht, Grandma«, sagte sie seufzend. »Aber ich kann nicht einfach aufgeben. Noch nicht. Die Worte auf der Plakette – die müssen doch eine Bedeutung haben. Und diese Kassette, die der Mann in der Hand hält, ist ein echtes Behältnis, allerdings verschlossen, und die Leute im Archiv wissen nichts von einem Schlüssel, was bedeutet« – sie lächelte hoffnungsvoll – »dass sich vielleicht etwas darin befindet.«
    »Tja, ich bewundere dein Durchhaltevermögen, mein Schatz«, sagte ich und griff nach dem Medaillon, das ich seit so vielen Jahren an einer goldenen Kette um den Hals trug. Nur ein einziger Mensch außer mir wusste, was darin verborgen war.
    Jennifer ging zum Tisch. »Vergiss den Brief nicht«, ermahnte sie mich und hielt ihn hoch. »Sieh dir bloß mal diese schöne Briefmarke an. Die ist aus …« Sie kniff die Augen zusammen, um die winzige Schrift lesen zu können. »Tahiti.«
    Mit klopfendem Herzen stand ich auf.
    »Wen kennst du denn in Tahiti, Grandma?«
    »Lass mal sehen«, sagte ich.
    Ich betrachtete den schlichten weißen Umschlag, der ein bisschen feucht war, weil er neben einem Milchkarton gelegen hatte, er hatte auch ein paar Rotweinflecken abbekommen. Nein, weder die Handschrift noch der Absender kamen mir bekannt vor. Wer sollte mir aus Tahiti schreiben? Und warum?
    »Willst du ihn denn nicht öffnen?«
    Meine Hände zitterten ein bisschen, als ich den Brief umdrehte und mit den Fingerspitzen über die exotische Briefmarke fuhr, auf der eine tahitianische Frau in einem gelben Kleid dargestellt war. Ich schluckte und versuchte, die Erinnerungen zu unterdrücken, die wie ein steigendes Hochwasser in meinen Kopf drangen, aber es hatte keinen Zweck, die Dämme brachen.
    Schließlich konnte ich nicht länger widerstehen und riss den Umschlag auf.
    Sehr geehrte Mrs. Godfrey,
    verzeihen Sie mir, dass ich mich in Ihr Leben einmische. Ich habe viele Jahre gebraucht, um Sie zu finden. Soweit ich weiß, waren Sie während des Kriegs als Lazarettschwester auf Bora-Bora stationiert. Wenn Sie die Frau sind, die ich suche, muss ich unbedingt mit Ihnen sprechen. Ich bin auf Tahiti aufgewachsen und jetzt wieder dorthin zurückgekehrt, um ein Rätsel zu lösen, das mich seit meiner Kindheit belastet. An einem Abend des Jahres 1943 wurde am Strand von Bora-Bora ein schrecklicher Mord verübt. Dieses Er eignis verfolgt mich schon ein Leben lang, und zurzeit schrei be ich ein Buch über die Ereignisse, die zu diesem Mord geführt und die Insel für immer verändert haben.
    Es ist mir gelungen, die Dienstpläne der Armee aus jener Zeit zu finden, und mir ist aufgefallen, dass Sie, als die Tragödie sich ereignete, keinen Dienst hatten. Können Sie sich zufällig an irgendetwas erinnern, das an jenem Abend am Strand passiert ist? Oder haben Sie dort vielleicht jemanden gesehen? Ich weiß, es ist alles sehr lange her, aber womöglich ist Ihnen ja etwas im Gedächtnis haften geblieben. Selbst ein noch so winziges Detail könnte mir bei meiner Suche nach Gerechtigkeit helfen. Bitte melden Sie sich bei mir, falls Ihnen etwas einfällt. Und sollten Sie noch einmal zu Besuch auf die Insel kommen, würde ich Ihnen gern etwas geben, das Ihnen gehört und das Sie vielleicht nach all den Jahren wiederhaben möchten. Es wäre mir eine große Freude, es Ihnen zurückzugeben.
    Mit freundlichen Grüßen
    Genevieve Thorpe
    Ich betrachtete den Brief in meinen Händen. Genevieve Thorpe. Nein, die Frau kannte ich nicht. Eine Fremde . Erschien plötzlich aus dem Nichts und wühlte Dinge auf. Ich schüttelte den Kopf. Einfach ignorieren . Es lag alles so viele Jahre zurück. Wie sollte ich in diese längst vergangene Zeit zurückkehren? Wie sollte ich all das noch einmal durchleben? Ich presste die Augen ganz fest zu, um die Erinnerungen zu verscheuchen. Ich konnte den Brief einfach ignorieren . Schließlich handelte es sich nicht um eine amtliche Nachfrage oder um eine Vorladung. Dieser Frau, dieser Fremden , schuldete ich gar nichts. Ich konnte
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