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Eine Freundschaft im Winter

Eine Freundschaft im Winter

Titel: Eine Freundschaft im Winter
Autoren: Kaya McLaren
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einen traurigen Traum hatte. Zwischen ihren Augenbrauen hatten sich ein paar steile Sorgenfalten eingegraben, viel zu ausgeprägt für das Gesicht einer Zehnjährigen. Sie streichelte Socks, ihren grauen Kater, und griff dann nach dem flauschigen weißen Bademantel ihrer Mutter, der am Fußende des Bettes lag und den sie ihrer Mom im vergangenen Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. In den Bademantel gehüllt, ging sie zum Fenstersims. Der Mantel war viel zu groß und schleifte auf dem Boden hinter ihr her.
    Auf der Fensterbank lagen ein paar Dutzend herzförmiger Steine, die sie und ihre Mutter im Laufe der Jahre gemeinsam gefunden hatten. Sie nahm einen großen bläulichen Stein in die Hand, drückte ihn an ihr Herz und schloss für einen Moment die Augen. Dann tauschte sie ihn gegen einen weißen mit glänzenden schwarzen Einsprengseln aus. Sie drehte ihn in den Händen, bis sie die Seite gefunden hatte, die aussah wie ein Herz und oben gelegen hatte, als ihre Mutter ihn entdeckt hatte. Es war der letzte Stein, den sie gemeinsam der Sammlung beigefügt hatten. Im vergangenen Frühling hatten sie zusammen am Fluss gesessen und dabei zugesehen, wie das Hochwasser an ihnen vorbeigerauscht war.
    »Sieh dir das an«, hatte ihre Mutter gesagt. »Wie hell die Gischt heute funkelt.«
    Sie hatten beobachtet, wie das Sonnenlicht sich in den reißenden Fluten gebrochen hatte. Ihre Mutter hatte recht gehabt: Die Gischt hatte heller gefunkelt als sonst. Cassie hatte noch einen Moment zugeschaut und dann die Frage gestellt, die sie seit März nicht mehr losgelassen hatte. »Mom, wirst du sterben?«
    Ihre Mutter hatte tief Luft geholt und den Atem ganz langsam wieder ausgestoßen. »Ach, Cassie, jeder muss mal sterben.«
    Cassie hatte geschluckt und ein paarmal geblinzelt, als sie in die Augen ihrer Mutter geschaut und dort etwas wie eine Entschuldigung ausgemacht hatte. Vielleicht ist das die Antwort, die Mütter geben, wenn sie nicht mehr weiterwissen, hatte sie gedacht.
    »Sieh mal«, hatte ihre Mutter gesagt und sich vorgebeugt, um den weißen, herzförmigen Stein mit den glänzenden schwarzen Einsprengseln aufzuheben. Cassie hatte gelächelt und ihn sich in die Tasche gesteckt.
    Jetzt, in ihrem dunklen Zimmer, legte Cassie den Stein auf den Fenstersims. Sie nahm ihre kleine Taschenlampe und leuch tete drei weitere herzförmige Steine auf ihrem Schreibtisch an. Diese Steine hatte sie gefunden, als sie im Sommer am Fluss entlangspaziert war, in dem langsam und träge das Wasser dahingeplätschert war. Sie hatte sich mit ihrer Mutter unterhalten, als wäre sie neben ihr gewesen, hatte ihr gesagt, wie sehr sie sie vermisste, und hatte gleichzeitig nach Worten gesucht, die ihre Mutter beruhigen sollten. Sie wollte nicht, dass sie sich im Himmel Sorgen machte.
    In ihrem Kopf hatte Cassie ihre Mutter jedes Mal sagen hören: »Da, sieh nach unten.« Und immer, wenn sie in die Knie gegangen war, hatte sie zwischen all den Steinen einen herzförmigen gefunden. Zuerst war sie überrascht gewesen, doch später nicht mehr. Sie hatte jedes Mal die Augen geschlossen und gesagt: »Danke, Mom.«
    Sie legte die Taschenlampe beiseite und nahm die drei Steine in die Hand, um zu fühlen, wie schwer sie waren. Dann nahm sie sie mit ins Bett. Draußen fiel der Schnee und bedeckte all die herzförmigen Steine bis mindestens April oder Mai. Sie streifte den Bademantel ab, breitete ihn aus und drapierte ihn auf ihrem Laken und dem Kissen. Dann kuschelte sie sich mit den Steinen in der Hand auf den Bademantel, wo sie sich beinahe vorstellen konnte, auf dem Schoß ihrer Mutter zu sitzen.
    »Manchmal muss man es einfach durchstehen«, hatte sie ihren Vater vor ein paar Monaten am Telefon sagen hören. Sie vermutete, dass er mit ihrer Großmutter, seiner Mutter, gesprochen hatte. Das war nun Cassies Mantra geworden: Manchmal muss man es einfach durchstehen, und zwar wenigstens bis die Nacht vorbei ist.
    Großer Kummer breitete sich in Jills Brust aus. Die unterschiedlichsten Gefühle hatten von ihr Besitz ergriffen. Panik, Niedergeschlagenheit, Beklemmung. Ein gigantisches Loch tat sich auf. Es fühlte sich an, als wäre sie erschossen worden, als läge sie auf dem Boden und würde spüren, wie das Leben aus ihr herausströmte. Sie konnte kaum noch atmen.
    Die Reifen summten auf dem Asphalt des Highways. Die Heizung lief auf Hochtouren, aber im Wagen war es immer noch kalt. Eine leichte Schicht aus pudrigem Neuschnee wehte in Wellen über die
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