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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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Lieber Monsieur van Gogh,
    vielleicht werden Sie diesen Brief nie lesen. Ich weiß nicht, ob ich den Mut haben werde, ihn zu verschließen und abzusenden. Ich weiß auch nicht, ob Sie sich überhaupt noch an mich erinnern, ob Ihnen etwas von mir im Gedächtnis geblieben ist, mein Gesicht oder meine Stimme. Ich hoffe es, auch deshalb, weil ich den Eindruck habe, dass Sie von allen Menschen, die Ihnen begegnet sind, etwas bewahren, und von allen Dingen, die Sie gesehen haben, und getan.
    Ihre Adresse habe ich mir besorgt: Doktor Gachet, im alten Mädchenpensionat, Rue de Vassenots, Auvers-sur-Oise.
    Allerdings, und das wissen Sie ja selbst, werden viele Briefe zwar angefangen, doch mehr auch nicht. Man findet nicht den Mut, sie abzuschicken, aus Furcht davor, falsch verstanden zu werden, nicht verstanden zu werden oder gar, weil man ungern fragt. Denn es ist immer schwer, wenn man zwar den Wunsch hat sich zu erinnern, aber gleichzeitig auch Angst vor der Macht der Vergangenheit.
    Auch Sie, der Sie viele Briefe geschrieben haben, wissen das. Obgleich Sie keinen einzigen davon je an mich gerichtet haben.
    Wie dem auch sei, ich fange an.
    Ich heiße Teresa, heute ist mein sechsundzwanzigster Geburtstag. Im Park, unter den großen Pinien mit den rötlichen Ästen, steht eine festlich gedeckte Tafel. Viele Freunde warten auf mich, sie wollen mit mir feiern. Es wird Fleisch vom Schwein und Cidre geben, hat man mir gesagt, nicht die üblichen Linsen, Bohnen und Kolonialwaren, die hier nur allzu oft schimmlig schmecken. Heute werde ich mich also kurzfassen.
    Ich schreibe Ihnen, weil ich Ihnen etwas sagen muss, was ich noch keinem Menschen gesagt habe. Ich kann nicht anders.
    Wir beide, Sie und ich, lernten uns vor gut zehn Jahren im belgischen Geel kennen. Ich hatte langes, schwarzes Haar und runde Wangen. Wir verbrachten nur wenige Tage zusammen, doch ich hoffe trotzdem, dass Sie diese so wie ich in guter Erinnerung haben.
    Ich kann mich noch genau an Sie erinnern, an Ihre helle Haut, Ihre breiten Schultern und sogar an Ihre Schrift. Sie waren damals ungefähr so alt wie ich jetzt. Ich habe Ihr Gesicht, Ihre Leidenschaft und die Sorge um Ihr Schicksal stets in mir bewahrt. In all den Jahren habe ich oft an Sie gedacht. Es wäre mir ein Trost, zu wissen, dass auch Sie sich bisweilen gefragt haben, was wohl aus mir geworden ist.
    Bitte kommen Sie mit, kehren Sie mit mir zu einem Septembertag des Jahres 1864 nach Geel zurück, hinter das Pfarrhaus, zu dem Augenblick, als Vikar Torsten den Rosenkranz beim dreiundzwanzigsten Ave-Maria unterbrach und durch die hintere Tür aus der Kirche der heiligen Dymphna trat.
    Dort muss ich anfangen, ich muss verstehen, warum all das geschehen ist, muss mich vergewissern, dass all das geschehen ist, dass ich das Mädchen war, das ich nun nicht mehr bin.
    Vertrauen Sie mir, Monsieur van Gogh, ich bitte Sie, und lesen Sie weiter.

    Es war ein sonniger Tag, ein in Geel seltener Tag. Rings um das Pfarrhaus jubelten die Farben. In der Ferne die gelbgrünen Felder, ein grauer Schafstall und dunkle Bäume, gleich hinter der Kirche eine lange, wilde Dornenhecke und Land, weder ganz schwarz noch ganz violett, bedeckt mit Erika und Torf. Der Tag war sonnig, durchaus, doch der Vikar haderte mit Gott. Seit Jahren war nämlich kein Wunder mehr geschehen.
    Die Kirche der heiligen Dymphna war rappelvoll wie immer in den Tagen der Novene. Die Bittenden kamen, umkreisten dreimal den Altar der Heiligen, knieten nieder, schlugen sich gegen die Brust, streuten sich Asche aufs Haupt, sangen die Psalmen oder ließen sie von den Kindern singen und erflehten die Barmherzigkeit des Himmels. Alles, wie es sein sollte.
    Doch niemand wurde geheilt.
    Vikar Torsten starrte niedergeschlagen vor sich hin, als er zwei sich paarende Katzen bemerkte. Zunächst versuchte er, sie zu übersehen, trat dann aber näher. Die Sache amüsierte ihn. Diese Tiere wälzten keine Probleme, hatten keine Bedenken, sie mussten keine Fastenzeit einhalten und fürchteten sich nicht vor den Strafen der Hölle. Sie begnügten sich mit etwas Futter, etwas Sonne und einem schnellen Liebesspiel, wie schön! Doch da erkannte Torsten sie. Das waren doch der weiß-rote Kater des Müllers und der schwarze Streuner, der sich immer dort in der Gegend herumtrieb.
    Du lieber Himmel, zwei Kater!
    Zwei Kater, die sich besprangen, zusammenklebend wie Pech und Schwefel. Unerhört, das war wider die Natur! Der Vikar hob einen Stein auf und warf nach den beiden.
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