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Eine Freundschaft im Winter

Eine Freundschaft im Winter

Titel: Eine Freundschaft im Winter
Autoren: Kaya McLaren
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dann zog sie sich wieder zurück und warf einen Blick auf das Bild, das sie gerade aufgenommen hatte. Es war zweifelsohne wahr.
    Langsam begann sie, sich die Rahmenbedingung ihres neuen Seins bewusst zu machen. Ihre Augen brannten, und sie fühlte einen schmerzhaften Stich bis in ihr tiefstes Inneres. Sie versuchte, eine Entscheidung zu fällen, was sie tun und ob sie ihn auf der Stelle zur Rede stellen sollte. Doch sie konnte über die laute Stimme in ihrem Kopf hinweg nichts denken. Die laute Stimme, die immer wieder rief: Lauf.
    Als sie die Treppe hinunterwankte und die Haustür öffnete, machte sie sich keine Mühe mehr, leise zu sein.
    Sie ging die vier Blocks zurück zu ihrem Lexus, rief einen Abschleppwagen an und wartete unter einem Baum auf dem angrenzenden Grundstück.
    Als der Abschleppdienst endlich kam, missdeutete der Fahrer den fassungslosen Ausdruck ihres vor Aufregung rotfleckigen Gesichts und sagte: »Das wird schon wieder, Ma’am. Es ist wahrscheinlich nur die Lichtmaschine. Wir können das reparieren. Wir können alles reparieren. Bleibt nur noch die Frage, ob sich eine Reparatur in jedem Fall lohnt. Und hier muss die Antwort lauten: Nein.«
    Jill schoss durch den Kopf, dass der Mann eine unglaubliche Ähnlichkeit mit Countrystar Willie Nelson hatte und dass seine Worte genauso gut auf ihre Ehe zutrafen. Als sie Luft holte, um etwas zu sagen, fügte der Fahrer hinzu: »Ihr Lexus ist ein schönes Auto, und er ist immer noch einiges wert. Wenn ein Wagen einen gewissen Wert hat, lohnt sich eine Reparatur.«
    Auf dem Weg in die Werkstatt dachte sie immer noch darüber nach. Aber vielleicht war ihre Ehe ja gar kein Lexus. Vielleicht war ihre Ehe ein Ford Pinto – eines der Autos, die dafür bekannt waren, bei einem Auffahrunfall gern mal in die Luft zu fliegen. Während sie bei der Werkstatt darauf wartete, dass die Mechaniker ihr Auto reparierten, trat sie durch die Hintertür auf den Schrottplatz. Sie ging durch die Reihen von Wagen mit Totalschaden, von alten Pick-ups und Fahrzeugen, deren Besitzer beschlossen hatten, dass eine Reparatur sich nicht mehr lohnte. Und sie fühlte sich genau wie sie. Sie fühlte sich wie der Buick, dessen Fahrertür so verbeult war, dass der Fahrer mit Sicherheit verletzt worden war, der jedoch von der anderen Seite so aussah, als wäre der Beifahrer unversehrt ausgestiegen. Sie fühlte sich wie der Saturn mit der zerschmetterten Windschutzscheibe, durch die niemand mehr erkennen konnte, was vor ihm lag. Das Auto sah aus, als wäre es in einer Massenkarambolage zwischen anderen Wagen eingeklemmt worden. Jill fühlte sich selbst wie nach einer Massenkarambolage. Sie betrachtete den Saturn und fragte sich, ob er hätte gerettet werden können, wenn ihm nur einer hinten hineingefahren und er nicht auch noch eingeklemmt worden wäre. Und sie fragte sich, ob dasselbe vielleicht für ihre Ehe galt.
    Die Spätnachmittagsluft kühlte allmählich ab, und so ging Jill zurück in den Wartebereich. Sie setzte sich auf einen der Plastikstühle, starrte vor sich hin und wartete. Lächerliche Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie fragte sich, ob all das Essen, das sie für Thanksgiving eingekauft hatte, verderben würde, oder ob David versuchen würde, es zu verwerten. Und sie fragte sich, ob er wusste, wann er den Truthahn aus dem Gefrierschrank nehmen und in den Kühlschrank legen musste, damit er auftauen konnte. Sie stellte sich vor, wie sie David mit ihrem gefrorenen Truthahn, den Pekannüssen und den Preiselbeeren unter dem Arm verließ.
    Doch über das Durcheinander all dieser Bilder hinweg dominierte noch immer ein Gedanke: Lauf.
    Lauf.
    »Ma’am?«, fragte der Mann hinter dem Tresen.
    Jill blickte auf.
    Er war spanischer Herkunft, hatte einen schmachtenden Blick und trug einen Rosenkranz um den Hals. Jill bemerkte den Ehering und fragte sich, ob er seine Frau je betrogen haben mochte. Gut, er sah nicht wie ein typischer Kandidat für Ehebruch aus, aber das hatte sie von David auch gedacht. Wie konnte man das jemandem ansehen?
    »Sie brauchen eine neue Lichtmaschine, aber heute kann ich keine mehr besorgen. Ich werde es morgen früh gleich als Erstes machen. Kann Sie jemand abholen?«
    Lauf, dachte sie, lauf. Doch sie nickte nur und ging hinaus.
    So lautete also das Urteil, – eine Rettung war möglich, aber nicht sofort. Sie sah die Straße hinauf und hinunter und fragte sich, was sie tun sollte. Unter keinen Umständen würde sie David anrufen, also wandte sie sich
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