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Eine feine Gesellschaft

Eine feine Gesellschaft

Titel: Eine feine Gesellschaft
Autoren: Amanda Cross
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Hall auf den Aufzug warteten.
    »Nun ja«, gab er zur Antwort, »wahrscheinlich wäre ich um einiges verblüffter gewesen, wenn es ihnen nicht gelungen wäre, meine Vorlesung über Methoden der Geschichtsschreibung, zu der nie weniger als einhundertfünfzig Studenten kommen, in einen Saal zu verlegen, der nur dann neunzig Studenten faßt, wenn zwei sich einen Sitz teilen, was ja heutzutage ohnehin in Mode ist. Aber genauge-nommen«, fügte er hinzu, während der Aufzug leer und achtlos an ihnen vorbeifuhr, offenbar unterwegs in eigenem, mysteriösem Auftrag, »weiß ich nicht, warum die Studenten noch Sitzplätze erwarten, wenn nicht einmal ein Theaterpublikum daraufrechnen kann. Gestern abend haben wir uns ein Stück angesehen – ich benutze den Begriff
    ›Stück‹, um anzudeuten, was wir zu sehen erwarteten, nicht, was wir dann tatsächlich gesehen haben. Nicht nur, daß es keine Sitzgelegen-heiten gab – die ganze Unterhaltung bestand darin, daß die Schau-spieler sich ihrer Kleider entledigten und, natürlich höflich, vom Publikum ein Gleiches verlangten. Voll angekleidet, kamen wir, meine Frau und ich, uns vor wie zwei Missionare in Afrika, die sich mit den Bräuchen der Eingeborenen nicht auskennen. Wollen wir zu Fuß hinuntergehen? Zumindest eines hat sich an der Universität nicht verändert: die Fahrstühle. Sie haben früher nicht funktioniert, sie funktionieren heute nicht, und obwohl ein Historiker niemals eine feste Aussage über die Zukunft machen sollte, so bin ich doch bereit zu wetten, daß sie auch niemals funktionieren werden. Wohin gehen 10

    Sie? Sagen Sie nichts, ich weiß es. Zu einer Sitzung. Und ich kann Ihnen auch sagen, worüber diskutiert werden soll: über die Relevanz als solche.«
    »Das wäre zu erwarten«, sagte Kate. »Tatsächlich bin ich auf dem Weg zu einem Rigorosum: über das poetische Werk von W H.
    Auden. Er hat Ihrer Muse einen Haufen kluger Verse gewidmet.«
    »Meiner? Gütiger Himmel, habe ich denn eine Muse? Genau das, was mir all die Jahre gefehlt hat. Glauben Sie, ich könnte sie gegen eine Putzfrau tauschen, drei Tage pro Woche, sie braucht auch nur ab und an zu bügeln? Meine Frau würde vor Dankbarkeit auf die Knie fallen.«
    »Ein Tauschgeschäft: Klio gegen eine Putzfrau? Unmöglich. Sie ist es doch, ›der wir um Hilfe flehend in die Augen schauen, nachdem wir erwischt worden sind‹.«
    »Hat das Auden geschrieben? Offensichtlich war er nie verheiratet. Das ist eine Beschreibung, die auf jede Frau paßt. Ich dachte, Sie wären Expertin für die Viktorianische Epoche.«
    »Das bin ich auch. Auden wurde 1907 geboren. Er hat Victoria also nur um sechs Jahre verpaßt. Und reden Sie nicht so frivol über Klio. Auden hat sie die ›Madonna des Schweigens‹ genannt, ›der wir uns zuwenden, wenn wir die Kontrolle verloren haben‹.«
    »Nun, dann halten Sie sie fest«, sagte Professor Castleman. »Ich wende mich jetzt ab.«
    Das Rigorosum sollte erst in einer Stunde beginnen. Kate wanderte ohne Eile in ihr Büro zurück, denn sobald sie die Baldwin Hall erreichte, wo das Englische Seminar für das weiterführende Studium untergebracht war, würde man sie bestürmen, in fünf weitere Komitees einsetzen, sie bitten, einige Fragen zum Curriculum zu klären, von denen sie keine Ahnung hatte (etwa die erforderlichen Sprach-kenntnisse für d. Studium des Mittelalters), und auffordern, die Probleme der endlos wartenden Studenten zu lösen. Diese Probleme be-trafen nicht nur Fragen der Dichtung und der politischen Polarisierung, sondern auch Drogen und die Antibabypille. Kate schlenderte in einer Art Trancezustand daher, an den sie sich inzwischen ge-wöhnt hatte. Er war das Ergebnis von Erschöpfung und geistiger Verdauungsprobleme, einem Gefühl der Unsicherheit, ähnlich dem, sich blindlings fallen lassen zu müssen, und, was am befremdlichsten war, einer Liebe zur Universität, die so irrational wie unerwidert schien.
    Es würde ihr nicht leichtfallen zu sagen, was sie an der Universi-11

    tät liebte. Kate dachte darüber nach, während sie sich umschaute.
    Ganz sicher nicht die Leitung (wenn es denn wirklich eine gegeben hätte, was, da sie wie die zehn kleinen Negerlein einer nach dem anderen zurückgetreten waren, nicht der Fall war). Den Verwaltungsrat genausowenig, ein Verein von müden, ultrakonservativen Geschäftsleuten, die nicht begreifen konnten, wieso sich eine Universität nicht wie ein Geschäftsunternehmen oder ein Countryclub führen ließ. Und die
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