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Winterland

Winterland

Titel: Winterland
Autoren: Åke Edwardson
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Das Feld
    Erik Winter hatte versucht, im Gesicht der Frau eine Antwort zu finden. Eine Antwort worauf? Auf die Frage warum? Nein, noch nicht. Es war etwas anderes. Es war, als ob die Frau mit ihrem letzten Gesichtsausdruck etwas gesagt hätte, das er, Winter, hätte verstehen müssen, das er hätte mitnehmen müssen aus diesem Raum, der so still gewesen war, als wäre er gegen jedes Geräusch von draußen isoliert.
    Doch es hatte sich nichts hineingedrängt, jedenfalls nicht auf diese Weise. Es hatte keine Spuren an der Tür oder am Schloss gegeben. Es gab keine Anzeichen von Gewaltanwendung in der Wohnung. So viel wussten sie inzwischen.
    Nur eine tote Frau. Ein eigentümlicher Gesichtsausdruck, ein Lächeln fast. Als er sich über die Frau beugte, hatte Kriminalkommissar Erik Winter unwillkürlich an das Lächeln der Mona Lisa denken müssen. Auch das war ein seltsames Gefühl. Winter konnte sich nicht entsinnen, bei seiner Arbeit jemals an die Mona Lisa gedacht zu haben. Er hatte das Bild, das Original, einmal als Jugendlicher im Louvre gesehen, und damals ganz kurz darüber nachgedacht, ob das wirklich ein Lächeln war, was sie da auf den Lippen hatte.
    Er dachte an das Gesicht der Frau in diesem Raum, der genauso aussah wie andere Räume, in denen Menschen lebten. Und starben. Die Frau war in diesem Zimmer gestorben, das wussten sie. Sie wussten, dass der Tod überraschend gekommen war, auch für sie selbst. Sie hatte es nicht selbst geplant, so viel glaubten sie zu wissen.
    Aber das war ungefähr auch schon alles, was sie wussten.
    Winter stand auf, ging zum Plattenspieler, drehte die Vinylschallplatte um und kehrte zum Sessel zurück, während ein Kontrabass durch den Raum rollte. An der Balkontür blieb er stehen und schaute durch die Scheibe, die zum Teil mit Raureif bedeckt war. Draußen war es kalt. Er beugte sich vor und nahm das Whiskyglas, das neben dem Sessel auf dem Tisch stand. Er nahm einen sehr kleinen Schluck von dem 60-prozentigen Glenfarclas, den er ein Jahr zuvor während einer abenteuerlichen Reise nach Schottland gekauft hatte. Der Alkohol war von dem Wasser, das er hineingegossen hatte, sämig geworden und wärmte sofort.
    Winter stellte das Glas ab und nahm das Telefon in die Hand. Während er die Nummer eintippte, hörte er, wie die letzte Straßenbahn des Abends oder der Nacht durch das Eis unten am Vasaplatz schrammte. Es war ein einsames Geräusch, das in die Einsamkeit dort unten gehörte. In einer Januarnacht bewegte sich niemand freiwillig auf den Straßen.
    Winter hörte auf das Klingeln. Auch das klang einsam. Eine bekannte Stimme antwortete:
    »Ja?«
    »Du bist doch hoffentlich noch nicht im Bett, Bertil?«
    Winter hörte seinen Kollegen Bertil Ringmar grunzen.
    »Wo denkst du hin, Erik? Es ist doch erst Viertel vor eins.«
    »Genau.«
    »Seit Angela und die Mädchen in Marbella sind, verlebst du glückliche Junggesellentage, was?«, fragte Ringmar.
    »Eher Nächte«, antwortete Winter. »Die glücklichen Junggesellennächte.«
    »Das meinte ich auch.«
    »Und, bist du jetzt wach?«, fragte Winter.
    »Was willst du?«
    »Ihr Gesicht«, sagte Winter. »Das von Charlotte Sander.«
    »Was ist damit?«
    »Es sah irgendwie … anders aus«, sagte Winter.
    »Das mag daran gelegen haben, dass sie tot war«, erwiderte Ringmar. »Und dass sie das immer noch ist.«
    »Wie viele tote Gesichter haben wir beiden schon gesehen, du und ich?«, fragte Winter. »Wir zusammen und jeder für sich?«
    »Allzu viele«, erwiderte Ringmar.
    »Und fast alle haben etwas gemeinsam«, sagte Winter.
    »Woran denkst du?«
    »Ich weiß nicht recht, aber da ist immer so eine Leere, so ein Nichts. Als ob man in diesen Gesichtern keine Antworten mehr finden könnte. Alles ist … weg.«
    »So ist es ja auch«, sagte Ringmar.
    »Hier nicht.«
    »Weißt du, Erik, zu dieser Tageszeit kann ich nicht mehr besonders gut denken, vor allem nicht, wenn ich kurz vorm Einschlafen bin.«
    »Bist du immer noch kurz vorm Einschlafen?«
    »Können wir nicht morgen darüber reden?«, fragte Ringmar.
    »Schlaf du nur«, sagte Winter, »dann denke ich solange.«
    Er nahm noch einen kleinen Schluck. Der Alkohol wärmte den Körper und regte die Gedanken an.
    »Wie ich höre, trinkst du Whisky«, bemerkte Ringmar. »Da hält sich jeder für einen Denker.«
    »Du solltest es auch mal probieren.«
    »Denken? Oder Whisky trinken?«
    »Das gehört zusammen, wie du grade schon richtig bemerkt hast.«
    »Verdammt, jetzt bin ich wieder
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