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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang
Autoren: Norbert Gstrein
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vorbei auf den großen Abreißkalender neben der Theke, der einen Sonntag im April anzeigte, aber natürlich wieder einmal um ein paar Tage hintan war, weil niemand sich die Mühe machte, jeden Morgen das Blatt vom Vortag abzureißen. »Es ist auf jeden Fall schon einige Zeit her.«
    »Wenn ich mich nicht täusche, müssen es knapp zwei Jahre sein«, sagte sie. »War es nicht bei der Hochzeit von Judith?«
    Als ich nicht antwortete, lachte sie.
    »Ich weiß, du willst nicht darüber sprechen, aber ich habe nun einmal meine Freude daran, ihn mir dabei vorzustellen.«
    Sie nannte es ein schauriges Ereignis, und ich nahm das hin, obwohl ich kaum an mich zu halten vermochte, ihr nicht den Mund zu verbieten.
    »Er hätte sogar Trauzeuge sein sollen und ist erst im letzten Moment abgesprungen«, sagte sie dann. »Zur Feier ist er aber trotzdem gekommen.«
    Die alte Geschichte beschäftigte sie immer noch. Wir hatten uns schon oft darüber unterhalten, und es kam für mich nicht überraschend, dass sie sofort wieder darauf ansprang. Dabei spielte es auch keine Rolle, ob ich ihr widersprach oder zustimmte, es endete unweigerlich in ihrem Lamentieren.
    »Trauzeuge bei der Hochzeit der Frau, für die er sich so lange zum Narren gemacht hat. Allein die Vorstellung ist geschmacklos. Die ganze Stadt hat gesehen, dass er ihr nachgelaufen ist wie ein aufgeregtes Hündchen. Bei allem Verständnis für seine Spinnereien, das muss mir einmal jemand erklären. Er hat so etwas doch gar nicht nötig gehabt. Mein Gott, ein Glückskind wie er. Wenn er nur ein bisschen geschickter gewesen wäre, hätte er an jedem Finger drei Verehrerinnen haben können.«
    Darauf wusste ich wieder nichts zu erwidern, und ich sagte auch nichts von dem kurzen Besuch, den er mir vor knapp sechs Monaten abgestattet hatte, unserer tatsächlich letzten Begegnung. Es war in den ersten Novembertagen, Abend schon, draußen bereits dunkel, und er stand unangekündigt vor der Tür, wollte sich zuerst nicht überreden lassen hereinzukommen und blieb über Nacht. Das überraschte mich nicht, war er doch in den Jahren nach seiner Schulzeit immer wieder einfach so bei mir aufgetaucht, anfangs noch häufiger, dann seltener, und auch seine Bitte, ihm Geld zu leihen und keine Fragen zu stellen, strapazierte unser Verhältnis nicht weiter. Ich wollte wissen, wieviel, und als er sagte, alles, was ich dahätte, sah ich ihn zwar erstaunt an, ging dann aber ins Schlafzimmer und holte es. Es war keine große, aber auch keine ganz kleine Summe, zweieinhalbtausend Euro, die ich neben meinem als gestohlen gemeldeten Pass nachlässig unter ein paar Hemden verwahrte, um vor mir die romantische Vorstellung aufrechtzuerhalten, jederzeit verschwinden zu können, und er nahm die Scheine, lauter Hunderter, faltete sie mit einem ausweichenden Blick und steckte sie in die Hosentasche. Er hatte sich schon einmal einen Betrag bei mir geborgt und ihn zurückgezahlt, ohne etwas zu erklären und ohne dass ich ihn daran erinnern musste. Deshalb kam ich auch jetzt nicht auf die Idee, er sei vielleicht in Schwierigkeiten, und als wir uns später am Küchentisch gegenübersaßen, irritierte mich höchstens die Tatsache, dass er nach meinem Haus fragte und ob ich noch manchmal an den Fluss hinausführe. Er war in einer Gesprächspause darauf gekommen, aus einer Verlegenheit, die ihn plötzlich befallen hatte, und ich wurde das Gefühl nicht los, er tue es nur meinetwegen, er liefere mir ein genau bemessenes Quantum Sentimentalität für mein Entgegenkommen. Es hörte sich wie Trost an, ohne dass ich hätte sagen können, wofür, es sei denn dafür, dass die Zeit verging und ich immer noch nicht weiter war als sein ehemaliger Lehrer, während er sich auf und davon gemacht hatte.
    Dass ich das Agata verschwiegen hatte und auch jetzt noch verschwieg, war ungewöhnlich, weil ich sie sonst brav über Daniel auf dem laufenden hielt. Dafür sorgte sie, indem sie regelmäßig fragte, ob ich etwas von ihm gehört hätte, und genau bedacht war er in all den Jahren zu einer Konstante in unseren Gesprächen geworden, wenn ich ins Bruckner kam und sie sich zu mir setzte und sich mit einem verträumten »Wo Daniel jetzt wohl ist?« oder einem fahrigen »Was Daniel jetzt wohl macht?« nach ihm erkundigte. Sie war neugierig, aber es war ihr nicht verborgen geblieben, dass mich das auch beschäftigte, und also gerieten wir ins Spekulieren, als er sich nicht mehr so oft blicken ließ wie in den ersten Monaten nach der
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