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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang
Autoren: Norbert Gstrein
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hatte sie bereits im Bruckner gearbeitet, ihre erste oder zweite Saison im Café, als Daniel in seinem letzten Schuljahr an jedem Wochenende dorthin gegangen war, um Karten zu spielen. Sie stellte das Tablett mit den leeren Gläsern, das sie in der Hand hatte, auf den Nebentisch und setzte sich mit aufgestützten Ellbogen mir gegenüber. Ihr Chef mag es nicht, wenn sie allzu sehr fraternisiert, und für das Privileg, dass sie bei mir immer eine Ausnahme machte, akzeptierte ich, dass sie mich manchmal behandelte wie ein Kind. Daher erwartete ich, sie würde das auch jetzt wieder tun, und verhielt mich still, während sie nach der Zeitung griff. Ich brauchte gar nicht hinzuschauen, um mir den Gesichtsausdruck vorstellen zu können, mit dem sie mich gleich danach über den Rand hinweg ansah, die Mischung aus Spott und Gereiztheit, die es ihr ermöglichte, noch dem offensichtlichsten Aufschneider eine Zeitlang in sein Paralleluniversum zu folgen, ehe sie gerufen wurde oder selber befand, es reiche. Sie stammte aus einem kleinen Dorf in Ungarn, direkt hinter der burgenländischen Grenze, und bezog einen paradoxen Stolz daraus, durch diese Tatsache auf alles, was ihr im Leben widerfahren würde, so gründlich vorbereitet zu sein, dass es keine Überraschungen für sie gab. Also nahm sie von ihren Stammgästen die größten Merkwürdigkeiten hin, und vielleicht wäre es mit der Klientel von alleinstehenden Männern, die sich Abend für Abend an der Theke einfand, auch nicht anders gegangen, als dass sie zuhörte, bis sie einen auf diese Weise zu mustern begann. Es war eine wortlose Aufforderung, sich zu beherrschen, wenn einer endgültig ein Bier zuviel bestellt hatte und ausfällig zu werden drohte oder wenn er ihr mit seinen Sprüchen auf die Nerven ging oder gar zum wiederholten Mal die Geschichte seiner gescheiterten Ehe erzählte, zusammen mit der Präsentation einiger zerknitterter Schnappschüsse aus glücklicheren Tagen und der Versicherung, wie prächtig die Kinder sich machten. Sie hatte diese zerstreute Art, eine Zigarette aus der Packung zu ziehen und anzuzünden, die gleichzeitig Ausdruck äußerster Konzentriertheit war, und ich schaute ihr einmal mehr zu, wie sie das mit einer Hand bewerkstelligte und nach dem ersten Zug von neuem auf das Bild starrte.
    »Du willst doch nicht im Ernst von mir wissen, wer das ist«, sagte sie und kniff scherzhaft die Augen zusammen, wobei über ihrer Nasenwurzel eine senkrechte Falte entstand, auf die sie den Daumen legte, wie um sie zu glätten. »Bei der Qualität der Aufnahme würde ich nicht einmal meinen eigenen Bruder erkennen.«
    Sie unterdrückte ein Gähnen, als ich sie fragte, ob ich ihr einen Tip geben solle. Dann nickte sie, und als ich zögerte, wollte sie schon aufstehen und gehen. Im selben Augenblick sah ich einen Anflug von Staunen und Erschrecken in ihrem Gesicht, und ich wusste, sie hatte begriffen.
    »Das glaubst du doch selbst nicht.«
    Es war klar, dass sie den Namen aus schierem Aberglauben nicht in den Mund nehmen würde, und ich gab ihr Zeit, sich an die Überraschung zu gewöhnen, während ich mich erinnerte, wie sehr sie Daniel mochte, wie ihr bei der Arbeit im Café noch im größten Trubel aufgefallen war, wenn er hereinkam, oder wie sie sich manchmal nach der Sperrstunde zu den Kartenspielern setzte und sie die letzte Runde in Ruhe fertig spielen ließ, nur um in seiner Nähe zu sein. Er musste gar nichts weiter tun, um ihr den Kopf zu verdrehen, und sie war beileibe nicht die einzige gewesen, die auf ihn aufmerksam wurde. Ich hatte zweimal bei ihr geschlafen und jeweils die halbe Nacht damit zugebracht, über ihn zu sprechen, was mir damals noch als ganz normal erschienen war, jetzt aber nicht nur angesichts ihrer Abwehr wie ein einziger Exzess vorkam.
    »Wenn du mich fragst, du siehst Gespenster«, sagte sie, nachdem sie sich umgeschaut hatte, als befürchtete sie, jemand könnte uns zuhören. »Vielleicht solltest du mehr unter Leute gehen.«
    Das war ihre übliche Empfehlung, wenn ihr eine Situation unbehaglich wurde, wenn sie Distanz suchte oder Überlegenheit signalisieren wollte. Aber allein daran, dass sich ihr Akzent bemerkbar machte, der sonst keinem mehr auffiel, erkannte ich, wie aufgeregt sie war. Etwas an dem Gespräch ging ihr gegen den Strich, und sie bemühte sich nicht, das zu verbergen.
    »Wann war er eigentlich zum letzten Mal hier?«
    »Weiß ich nicht«, sagte ich, wenngleich ich es ganz genau wusste, und schaute an ihr
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