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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang
Autoren: Norbert Gstrein
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wurde, wo das Flugzeug bei seiner Notlandung zum Stillstand gekommen war. Die Trasse verschwindet unmittelbar dahinter im Berg, so dass das Dorf vom Verkehrslärm verschont bleibt, und man kann endlos zuschauen, wie der Tunnel gleich einem riesigen Schlund Auto um Auto verschluckt. Ich trinke an der Bar ein Bier oder auch zwei und mache mich dann auf nach Hause, eine Fahrt von kaum einer Viertelstunde, die sich nur schwer ausdehnen lässt, weshalb ich jedesmal mit dem Gedanken spiele, ich könnte ein Zimmer in dem Motel nehmen und über Nacht bleiben. Ich bin schon so weit gegangen, mir einen Grund zurechtzulegen, wenn ich gefragt würde, warum, aber auf dem Weg zur Rezeption hat mich noch immer der Mut verlassen. Fast alle, die auf dem Gelände arbeiten, sind aus dem Dorf, die meisten so jung, dass sie kaum wissen, wer ich bin, aber weil ich nicht auffallen will, sehe ich mich vor. In der einen Woche wähle ich den Montag für meinen Besuch, in der nächsten den Donnerstag, einmal vor, einmal nach dem Schichtwechsel am Abend, so dass mit einiger Wahrscheinlichkeit dieselben Leute mich nicht allzu oft zu Gesicht bekommen. Bis zu der Stelle, wo ich das Auto stehenlasse, wenn ich zu meinem Haus will, sind es von der Raststätte knapp zwei Kilometer, und ich müsste nicht einmal zurück auf die Autobahn, es gibt einen eigenen Weg, aber unter normalen Umständen käme ich in Monaten vielleicht einmal auf die Idee, vorbeizuschauen und nach dem Rechten zu sehen oder eine halbe Stunde vor der Tür zu sitzen und auf den Fluss hinauszublicken.
    Damit will ich sagen, ich hätte mich wohl die längste Zeit nicht mit diesen Dingen beschäftigt, wäre ich nicht auf den Gedanken verfallen, ich sei in der Zeitung auf Daniels Bild gestoßen. Ich war wie jeden Dienstag und jeden Freitag während des Schuljahres ins Bruckner zum Abendessen gegangen und hatte gegen meine Gewohnheit die dort ausliegenden Blätter überflogen, und ich bin sicher, dass nur meine Beiläufigkeit mich überhaupt erst darauf brachte, er könnte es sein. Es wird Untersuchungen geben, die dieses Erkennen des flüchtigen Blicks erklären, und es muss mich nicht kümmern, dass ich bei genauerem Hinsehen nicht zu sagen vermocht hätte, wieso ich davon überzeugt war. Ich könnte mir etwas zusammenreimen, eine bestimmte Neigung des Halses, etwas in den Augen, den leicht geöffneten Mund, aber die Wahrheit ist, dass ich es nicht weiß. Es war ein grobkörniges Foto, aufgenommen wahrscheinlich von einer Überwachungskamera, sein Kopf in einer Menschenmenge hervorgehoben, indem er eingekreist und heller grundiert war. Dazu kam, dass er unrasiert wirkte und die Kapuze seines Sweatshirts übergezogen hatte, als wollte er sich unkenntlich machen, was sich bei Nachforschung womöglich sogar als einer der Gründe herausstellen würde, warum er von allem Anfang an in den Fokus geraten war.
    Es war erst drei Tage her, dass es auf dem Bahnhof eine Bombendrohung gegeben hatte, und der Abgebildete, hieß es, werde im Zusammenhang damit gesucht. Die Aufregung in der Stadt hatte sich schon wieder gelegt, und ich konnte mich nicht genug wundern, wie schnell das bei uns ging. Ein paar Stunden, in denen sich ein Gefühl des Ausnahmezustands breitgemacht hatte, ein kurzes Aufflackern nach den ersten Nachrichten in der Zeitung, bevor von neuem die alte Lethargie eingekehrt war, wonach die Dinge, ob gute oder schlechte, nicht hier passierten, sondern anderswo, und ich starrte jetzt mit einer anhaltenden Empfindung von Unwirklichkeit auf das Bild. Er war es, sagte ich mir und hätte im nächsten Moment schwören können, dass ich mich täuschte. Das Gebäude mit den Schaltern und dem Warteraum war stundenlang abgesperrt gewesen, der Zugverkehr lahmgelegt, nachdem ein anonymer Anruf eingegangen war und man gleich danach auf einer der Toiletten eine Tasche entdeckt hatte, in der sich dann allerdings nur eine verbeulte Autobatterie mit einem Wirrwarr von Kabelwerk fand, bedrohlicher aussehend, als sie in Wirklichkeit war. Daneben lag ein Zettel mit den in Buchstaben unterschiedlichster Größe zusammengeklebten Zeilen »Kehret um!«, »Erste und letzte Warnung!« und »Beim nächsten Mal wird es ernst!«, gefolgt von einem unentzifferbaren Gekrakel, das wohl der Ersatz für eine Unterschrift sein sollte.
    Ich wartete, bis Agata an meinem Tisch vorbeikam, und bat sie, einen Blick auf das Foto zu werfen, weil ich dachte, sie würde meinem Verdacht am ehesten noch folgen können. Immerhin
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