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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang
Autoren: Norbert Gstrein
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nickte nur. Außerdem schien es absurd, mir das zu sagen, wenn ihr Sohn weder lesen noch schreiben konnte und den Verstand eines Fünfjährigen hatte, aber das musste Teil des Scherzes sein. Sie war aufgestanden und stand jetzt in ihrem Badeanzug vor mir, den Ellbogen des einen Arms in die Hand des anderen gestützt, die Zigarette zwischen Mittel- und Ringfinger. Sie hatte sie fast bis zum Filter heruntergeraucht und nahm mit zusammengekniffenen Augen einen letzten Zug, bevor sie den Stummel an einem Stein ausdrückte und achtlos in den Kies vor der Veranda warf.
    »Du nimmst alles viel zu ernst«, sagte sie, ihren Kopf kunstvoll in eine Rauchwolke gehüllt. »Vielleicht kannst du irgendwann einsehen, dass es Dinge gibt, für die du nicht verantwortlich bist und die vielleicht nicht einmal etwas mit dir zu tun haben.«
    Es klang wie eine Absolution, aber das war das letzte, was ich gebrauchen konnte, wenn sie mir nicht sagte, wovon. Wir hatten bis dahin vermieden, über Daniel zu sprechen, und ich vermied auch jetzt, sie zu fragen, ob sie immer noch Angst habe, er könne plötzlich vor ihrer Tür stehen, oder ob sie sich wie die meisten anderen damit arrangiere, dass der Fall trotz aller Unstimmigkeiten abgeschlossen war. Die Anspielung auf ihn schien jedenfalls nur allzu deutlich, und während ich überlegte, was ich erwidern sollte, stürmte die Erinnerung, wie sie in jenem Sommer an den Fluss herausgekommen war und wie ich sie gemeinsam mit Daniel am Wasser drunten beobachtet hatte, auf mich ein. Ich wusste nicht, warum es dieses Bild war, aber ich sah sie auf einmal wieder vor mir, zusammen mit Christoph, und erinnerte mich an den Abstand, den auch ich empfunden hatte. Sie war damals schon schwanger gewesen und war sich verabschieden gekommen, aber das war es nicht. Es war etwas, das mit Daniel zu tun hatte, seine Traurigkeit an dem Tag, sein melancholischer Blick auf sein Leben in der Vorzukunft. Ich hatte die Formulierung noch genau im Kopf, wie er sagte, er schätze, er solle glücklich sein, und hätte ihr beim Gedanken an das Gespräch, das wir dann geführt hatten, am liebsten davon erzählt. Statt dessen schwieg ich und beugte mich über mein Manuskript. Sie stand noch eine Weile da, als wollte sie mich nicht so leicht davonkommen lassen, streckte sich dann aber wieder auf ihrer Decke aus und zündete sich eine neue Zigarette an.
    Dass sie den Jungen gleich am nächsten Tag mitbringen würde, hatte ich nicht erwartet, aber noch viel weniger hatte ich erwartet, was das dann zur Folge haben sollte. Ich hatte gedacht, er würde vielleicht ein- oder zweimal wiederkommen, ich wäre ein bisschen von meiner Arbeit abgelenkt, aber mehr nicht. Auch wusste ich beim ersten Mal nicht, wie mit ihm umgehen, und hätte mich nicht gewundert, wenn es gleichzeitig das letzte Mal gewesen wäre. Ich war drunten am Wasser, als Judith mit ihm erschien, und hörte nicht, wie sie sich auf der Schotterbank näherten, und als ich mich umdrehte und sie keine zwei Meter vor mir standen, erschrak ich. Zwar wich ich nicht zurück, aber es war ein Augenblick, in dem alles hätte schiefgehen können. Ich erinnere mich an Judiths Unsicherheit, wie sie zögerte, ihre Hände auf seinen Schultern, als wäre sie unschlüssig, ob sie den Jungen auf mich zuschieben oder ob sie ihn von mir wegziehen solle, und wie er sich von ihr löste, einen Schritt vortrat und mir die Hand gab. Er hatte kurze Hosen und ein bis zum obersten Knopf zugeknöpftes Hemd an und trug eine Mütze mit einem überlangen Schild, unter dessen Schatten hervor er mich ansah und fragte, ob es stimme, dass ich Lehrer war.
    Es entstand ein Moment der Verlegenheit, und auch wenn sich seither vieles geändert hat, ist es immer noch gelegentlich dieser Blick, mit dem er mich ansieht. Ich will nicht sagen, dass er mich auserwählt hat, aber ich habe ihn von Anfang an gern um mich gehabt, und tatsächlich ist er jetzt fast Tag für Tag bei mir. Judith kommt manchmal schon am Vormittag mit ihm, und wir verbringen zu dritt eine Weile am Fluss, sitzen nur da oder spazieren am Ufer entlang, und ich ertappe mich Hand in Hand einmal mit ihm, einmal mit ihr, oder sie lässt uns beide für Stunden allein. Dann gehe ich mit ihm zur Schotterbank hinunter, wie ich es mit Daniel und Christoph getan habe, und schaue ihm zu, wie er Steine sammelt, bis er endlich den richtigen gefunden hat und sich nicht entscheiden kann, ob er ihn zum Werfen nehmen oder nicht doch lieber einstecken und
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