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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang
Autoren: Norbert Gstrein
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ich wusste immer noch nicht, was diese Inschrift, die angeblich auf dem Kreuz angebracht gewesen war, zweitausend Jahre später in unserer Nacht sollte, könnte man doch mit gleichem Recht vom ersten und im übrigen einzigen Palästinenserführer sprechen, der jemals etwas erreicht hatte. Ich war unlängst erst auf die Formulierung gestoßen und murmelte die Worte vor mich hin, aber ob als Triumph oder als Schmähung, sie ergaben keinen Sinn, und ich ließ es sofort wieder sein und beschränkte mich auf die stille Betrachtung des Geflimmers vor meinen Augen.

 
     
    Nach allem
     
    IN DAS
    DUNKELSTE
    BLAU

     
     
     
    Ich war froh, dass danach nur mehr zwei Wochen Unterricht blieben. Die letzten Schultage habe ich schon immer gemocht, als Lehrer genauso wie als Schüler, aber dieses Mal war ich von einer richtigen Euphorie getragen und verspürte nicht einmal das Bedürfnis, mich möglichst schnell davonzumachen. Auch wenn ich keine Stunden mehr hatte, hielt ich mich manchmal bis in den Nachmittag auf dem Gelände auf, las im Konferenzzimmer oder ließ mich am Rand des Sportplatzes nieder und schaute einer Klasse beim Fußballspielen zu. Die Kollegen begegneten mir nach der Bombenexplosion, wie wenn sie mir unrecht getan hätten, was ich um so weniger verstehe, als sie gleichzeitig den Anschein erweckten, als müsste ich mehr darüber wissen und nicht auch nur das, was sie selbst wussten und was in der Zeitung stand. Zudem hatte sich keiner von ihnen mir gegenüber jemals so weit vorgewagt, dass es einen Grund gegeben hätte, etwas zu bedauern. Ich konnte mir also ausmalen, was sie hinter meinem Rücken redeten, wenn sie meinten sich erklären zu müssen. Ihre Erleichterung war auf jeden Fall unübersehbar, und Herr Bleichert ging sogar so weit, sich bei mir zu entschuldigen, ohne genau sagen zu können, wofür, und rettete sich dann in Konversation, das ganze Hin und Her um Daniel habe ihm Lust gemacht, wieder einmal ins Heilige Land zu fahren. Der Direktor dagegen tat, was er immer tat, wenn er mit mir zufrieden, und manchmal auch, wenn er mit mir unzufrieden war. Er lud mich zu sich nach Hause zum Essen ein, aber die gegenseitigen Vorbehalte waren doch so groß, dass wir es nicht schafften, gleich einen Termin zu finden, jedoch so verblieben, dass es irgendwann im Laufe des Sommers sein sollte. Ich hatte ihm erzählt, ich würde verreisen, und ich glaubte es nicht nur selbst, ich besorgte mir auch in einem Reisebüro einen ganzen Stapel von Katalogen, wie um alle möglichen Ziele als unmöglich auszuschließen, bevor ich mir zugestand, zu Hause zu bleiben.
    Es sind jetzt bald zwei Monate, seit ich wieder fast tagtäglich draußen am Fluss bin, und wenn nicht das neue Schuljahr wäre, wenn nicht die Sommerferien bald zu Ende gingen und ich nicht irgendwann überlegen müsste, was ich danach machen werde, könnte die Zeit stillgestanden sein. Wie vor zehn Jahren habe ich in der letzten Unterrichtswoche angefangen hinauszufahren, nur dass es diesmal gezielter war, selbst wenn mir meine eigenen Absichten in den ersten Tagen noch verborgen blieben. Wenn es damals eine Flucht gewesen war, eine Flucht aus dem Alltag, traf das nun nicht mehr zu, wurde es eher eine Heimkehr, aber natürlich ist auch das nicht das richtige Wort. Ich habe mich entschieden, nicht mehr in die Schule zurückzugehen. Über alles Weitere bin ich bestenfalls unschlüssig, und ich male mir aus, dass ich in das Haus kommen werde, bis im Herbst die Kälte anbricht oder es anfängt zu schneien. Noch habe ich mit niemandem über meine Pläne gesprochen, aber ich stelle mir vor, dass ich am ersten Schultag einfach nicht erscheinen werde und es keinem auffällt, eine kindliche Vorstellung, gewiss, aber nicht schrecklich, sondern ein Gedanke, der mich augenblicklich beruhigt, wenn ich mir Sorgen zu machen beginne. Ich weiß, dass mir nachgesagt wird, ich würde insgeheim darauf warten, dass eines Tages Daniel wieder auftaucht, wie er damals gemeinsam mit Christoph aufgetaucht ist. Es stimmt schon, ich habe das Bild deutlich vor Augen, wenn ich daran denke, wie sie mit ihrem Moped näher gekommen sind, und das kleinste Motorengeräusch in der Ferne genügt, mich daran zu erinnern, doch die Dinge wiederholen sich nicht. Wenn ich vorn am Wasser bin und mich in Gedanken verliere, schießt mir manchmal durch den Kopf, ich müsste mich nur umdrehen und er würde hinter mir stehen, aber selbstverständlich drehe ich mich nicht um. Ich habe meine Tagträume,
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