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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang
Autoren: Norbert Gstrein
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glaubst, das gibt dir das Recht«, sagte er. »Deshalb sprichst du türkisch mit uns.«
    Damit lehnte er sich noch weiter herein.
    »Wo sind wir hier?«
    Als ich nicht antwortete, stupste er mich an.
    »Ich habe dich gefragt, wo wir hier sind.«
    »In Österreich«, sagte ich. »Es war nicht so gemeint.«
    »Wir sind also in Österreich«, sagte er, als wäre damit endlich das Wichtigste geklärt. »Wie spricht man in Österreich?«
    Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als auf die Fahne vor dem Balkon im zweiten Stock zu deuten. Vorsichtig sagte ich, das sei doch die türkische Fahne, und weil ich sie gleich gesehen hätte, wolle ich nur entgegenkommend sein, aber er erwiderte, und wenn das hundertmal die türkische Fahne sei, gehe es mich nichts an. Dabei blickte er nicht einmal auf, um dann gleich wie ein Automat mit seinem Programm weiterzumachen.
    »Spricht man in Österreich türkisch?«
    »Nein«, sagte ich. »Das ist doch absurd.«
    »Warum sprichst du dann türkisch mit uns?«
    Ich konnte von Glück reden, dass in diesem Augenblick der andere einschritt und zu dem sich immer irrer Gebärdenden sagte, er solle mich in Frieden lassen, ich sei in Ordnung. Er schob ihn beiseite und stand jetzt selbst an der Beifahrertür. Er entschuldigte sich, es sei die Anspannung wegen der Bombe, die an ihren Nerven zerre, und ich fragte ihn, ob sie den Toten gekannt hätten.
    »Wir haben nie mit ihm gesprochen, aber wir haben natürlich gewusst, wer er ist«, sagte er. »Er ist in den letzten Wochen fast jeden Abend mit seinem Lieferwagen an uns vorbeigefahren.«
    »Auf dem Weg zu seiner Garage?«
    »Sieht wohl ganz danach aus.«
    »Habt ihr euch nicht gefragt, was er da macht?«
    »Er ist immer freundlich gewesen«, sagte er. »Er hat uns durch das offene Fenster manchmal etwas zugerufen oder mit einem Lächeln zwei Finger zum Victory-Zeichen entgegengestreckt.«
    Für mich hörte sich das an wie die pure Perfidie, weil ich darin immer schon eine Drohung gesehen hatte, eine Teufelei, die gar keine Tarnung brauchte, weil sie allgemein akzeptiert war. Ich musste mir die Szene nur vorstellen, um eine Gänsehaut zu bekommen. Da hatte also einer fast tagtäglich und stillheimlich seinen scheußlichen Triumph gehabt, sagte ich mir, und ich sah auf einmal wieder das sanfte, fast mädchenhafte Gesicht des Toten vor meinen Augen.
    »Ausgerechnet mit dem Victory-Zeichen?«
    Bereits am Nachmittag hatte ich einiges über ihn in Erfahrung gebracht, und ein ausländerfeindlicher Hintergrund, wie es hieß, galt als nahezu sicher. Zwar war noch nichts von den einschlägigen Schriften bekannt, die man bei der Durchsuchung seines Zimmers in der Stadt finden sollte, aber er hatte seinen Ruf, und mit wem auch immer ich sprach, es kam eines zum anderen. Ein Schulabbrecher, arbeitslos, der schon mehrmals mit der Polizei in Konflikt geraten sein musste, und seine letzte Stelle war in dem aufgelassenen und nur für kurze Zeit wieder in Betrieb genommenen Steinbruch ganz in der Nähe des Betonwerks weiter flussaufwärts gewesen, was eine vergleichsweise einfache Beschaffung des Sprengstoffs erklärte. Er hatte die Garage in dem leerstehenden Haus schon vor Monaten zusammen mit Freunden tatsächlich als Proberaum gemietet, war aber in den vergangenen Wochen nur mehr allein dort hingegangen. Es passte alles fast zu gut zusammen, und die letzten Teile des Puzzles fügten sich in den folgenden Tagen in das Bild eines Irrläufers mit paranoiden Vorstellungen einer Bedrohung von außen, die keinen groß überraschen konnten, der wusste, in welchem Land wir lebten.
    Ich erinnere mich, wie ich an dem Abend von den Jugendlichen wegfuhr. Es war Wind aufgekommen, die Sonne stand gerade noch über den Bergen, und ich hatte wieder einmal die plötzliche Sehnsucht nach dem flachen Land, die Sehnsucht, dieser gottverdammten Enge zu entfliehen, irgendwo in die Weite, als ich zum Zaun hinüberschaute und sie nebeneinander aufgereiht sah. Der Junge, der mich bedroht hatte, war ein paar Schritte zurückgewichen, und der andere lehnte immer noch an der Beifahrertür und schien nur darauf zu warten, dass er endlich nicht mehr gehört werden konnte. Dann fragte er mich, wo in Istanbul ich gewohnt hatte, und als ich es ihm sagte, erzählte er, seine Großeltern stammten aus Anatolien, aber er habe einen Onkel dort, ein Stück den Bosporus hinauf, und sei schon lange eingeladen, zu Besuch zu kommen. Er wollte wissen, ob ich die Stadt möge, und ich nickte. Ich sagte,
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