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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang
Autoren: Norbert Gstrein
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und Alpträume in der Nacht. Drunten in der Schlucht war ich noch nicht, aber ich weiß, ich werde eines Tages hinuntergehen, ich habe die Angst davor verloren und muss es nicht jetzt tun, das Wissen, dass ich es jederzeit tun könnte, ist mir genug. Ich sehe den Raftern zu, die es immer noch gibt, ganze Schwärme manchmal, gleich jung, gleich unbekümmert wie damals, wenn sie auf meiner Höhe ihre Fahrt verzögern und etwas herüberrufen oder grüßend die Paddel heben, ausgelassene und wild ihre Ausgelassenheit und ihr Glück zur Schau stellende Jungen und Mädchen. Zwei oder drei Minuten, mehr nicht, und sie sind an der Stelle, die ich mir nicht mehr als Schlund in den Abgrund ausmale, sondern als Öffnung, hinter der sich die Stromschnellen in einem breiten Becken verlaufen, und ich schaue ihnen voll Zuversicht nach, bis ich sie aus den Augen verliere.
    Ich glaube nicht, dass Daniel in Israel ist, aber ich verfolge dennoch allein seinetwegen die Nachrichten, und wenn ich sehe, wie sich die Lage dort ein weiteres Mal zuspitzt, geht mir der Reverend nicht aus dem Kopf mit seiner Prophezeiung, dieses Jahr sei das Jahr. Sofern er überhaupt noch lebt, müssen die Ereignisse wie eine Bestätigung für ihn sein, nichts anderes als die Katastrophe, die dem Kommen des Messias vorausgeht, die Zeit der Drangsal, bevor der himmlische Frieden anbricht. Zuerst war es nur Gaza, angeblich um einen entführten Soldaten zu befreien und weil von dort Raketen auf Städte und Siedlungen in Grenznähe abgeschossen wurden, aber längst hat die Armee auch mit militärischen Operationen im Norden des Landes begonnen. Die Zeitungen sprechen von einem zweiten Libanonkrieg, und ich bin sicher, der Reverend könnte genau sagen, warum das alles so sein müsse, er würde wissen, auf welcher Stufe im endzeitlichen Heilsgeschehen die Welt sich befindet. Ich brauche mich nur an seine Maxime zu erinnern, damit er mir wieder in seiner ganzen Verrücktheit vor Augen steht. Sowenig ich sie jemals ernst genommen habe, so sehr ist sie mir im Kopf geblieben, und wenn ich von immer neuen Grausamkeiten lese, höre ich gleichzeitig im Predigerton seine Stimme, die Kriege seien ein Zeichen für den baldigen Frieden, die Verbrechen ein Zeichen für Gnade, die schlechten Zeiten in Wirklichkeit gute. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Daniel daran glaubt, auch wenn er selbst es gewesen ist, der mich darauf hingewiesen hat, und doch bleibt in seiner Verbindung zum Reverend eine Unsicherheit, an der sich immer von neuem meine Zweifel aufbauen und an der mir seine Person jedesmal wieder entgleitet, wenn ich versuche, sein Leben in einen Zusammenhang zu bringen.
    Es gibt natürlich genug Arbeit, wenn ich mich ablenken will. Gleich am ersten Tag habe ich wieder angefangen, das Notwendigste im Haus in Ordnung zu bringen. Es war diesmal weniger zu tun als seinerzeit, weil die Tür versperrt gewesen war und niemand hereinzukommen versucht hatte und abgesehen vom Staub kaum etwas beseitigt werden musste. Ich trug die Zeitungen zusammen, die noch von Daniels Winteraufenthalt da waren, putzte die beiden Räume gründlich und überlegte, den Holzboden abzuschleifen, ließ es dann aber sein. Auf dem Dach besserte ich die schadhaften Stellen aus, und ich hatte wieder die alte Freude, mich im Freien umzutun. Den Abfall rundherum zusammentragen, die Büsche stutzen, alles, was ich schon einmal getan hatte und was ich wieder tat, mit dem gleichen Behagen, der gleichen Selbstverständlichkeit und dem gleichen Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben. Ich kaufte Vorräte, zuerst nur Essen und Trinken für ein paar Tage, und machte mich schließlich daran, auch das von Daniel und Christoph ausgehobene Lager aufzufüllen. Die zwei Aluminiumkisten waren immer noch an ihrem Platz, und ich legte Konservendosen und Wasserflaschen hinein, wie sie es getan hatten. Ich war gerade mit der Heckenschere rund um die verwachsene Aushebung zugange, als ich mich schnitt. Nachdem ich in dem kleinen Verbandskasten, der auch aus dem Sommer damals stammte, ein Pflaster gesucht hatte, setzte ich mich auf der roh gezimmerten Bank neben dem Eingang in den Schatten. Ich saugte an dem blutenden Finger, bevor ich die Wunde verklebte, und hatte den Geschmack meines Blutes noch im Mund, als ich ein Blatt Papier und einen Stift nahm und begann, diese Geschichte aufzuschreiben.
    Fast von Anfang an waren die Spaziergänger wieder da, sonntags ohnehin, aber auch an anderen Tagen, und wie sie sich damals im
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