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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang
Autoren: Norbert Gstrein
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seines langen Schweigens empfand ich fast als einen körperlichen Akt, geradeso, als würde er etwas ausbrüten, und wenn er sich nach einer oder zwei Stunden erhob, müsste sich ein schwarzes, versteinertes Ei unter ihm auf dem Boden finden. Mir ist nicht klar, was er sich von seinen Besuchen erwartete. Vielleicht glaubte er, seine Anwesenheit würde ihn durch schiere Einfühlung auf neue Erkenntnisse bringen, aber wenn er dann dasaß, seine Beine weit ausgestellt, die Arme auf die Oberschenkel gestützt, die Finger ineinander verhakt, wirkte er vor allem wie einer, der nicht nach Hause gehen wollte.
    Es war dann folgerichtig auch er, der mich bei einer meiner großen Torheiten überraschte. Ich war eines Abends so weit in den Fluss hinausgeschwommen wie noch nie, und als ich mich umwandte und wieder zurückwollte, erkannte ich, dass ich schon über der Mitte sein musste, und entschloss mich, auf das andere Ufer zuzuhalten. Weit abgetrieben, kroch ich buchstäblich am Ende meiner Kräfte nackt und zitternd vor Kälte an Land. Ich hatte die Wahl, ohne Kleider bis zur Brücke weiter flussabwärts zu gehen, ein Weg von wenigstens zwei Stunden, oder zu warten, bis ich mich ausgeruht und aufgewärmt hatte, und den Fluss in die andere Richtung noch einmal zu überqueren. Es war eine Verrücktheit, aber meine Entscheidung stand fest. Ich ging am Wasser entlang, bis ich wieder auf Höhe des Hauses war, und dort sah ich Inspektor Hule am äußersten Ende der Schotterbank stehen und mir zuschauen. Hören konnte ich ihn nicht, aber er hatte mich wahrscheinlich die ganze Zeit schon beobachtet und gestikulierte. Es war offensichtlich, dass er mich abhalten wollte, mir die Strecke noch einmal zuzumuten. Ungeachtet dessen mühte ich mich ein ganzes Stück am Ufer weiter, ungefähr so weit, wie ich wieder abgetrieben werden würde, und er folgte mir auf seiner Seite. Während ich den ersten Fuß ins Wasser setzte, sah ich, wie er seine Kleider ablegte, und dann hatte ich von einem Augenblick auf den anderen so sehr mit der Strömung zu kämpfen, dass ich ihn erst direkt vor mir wieder entdeckte, als er mich etwa in der Flussmitte erreichte. Da bekam ich schon fast keine Luft mehr, und er sagte, ich solle mich an ihm festhalten. Er war ein kräftiger Schwimmer, und es genügte, ihn in meiner Nähe zu haben, dass sich mein Atem wieder beruhigte. Ich berührte ihn nur kurz an der Schulter und schwamm dann leicht seitlich versetzt hinter ihm her und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich gegen meine Überzeugung und gegen alles, was ich mir für eine solche Situation vorgestellt hatte, drauf und dran war zu beten.
    Wir waren gerade wieder an Land, als er fragte, ob ich mich umbringen wolle. Er stand mir keuchend gegenüber, und ich antwortete nicht. Weil wir beide nackt waren, dachte ich verquer, dass dadurch alles gerechtfertigt sei und nichts eine Erklärung verlange. Wir waren genau an der Schotterbank aus dem Wasser gekommen, und er legte mir einen Arm um die Hüften und zog und schob mich wie eine willenlose Puppe zum Haus. Dort plazierte er mich vor der Tür in einen Flecken der letzten Sonne. Er holte zwei Decken heraus, warf mir eine zu und legte sich die andere um die Schultern. Er machte ein Feuer und kochte Tee. Ohne mich zu beachten, setzte er sich neben mich auf einen Baumstumpf und schaute lange zum Fluss hinunter, wo mir an dem Tag noch kein einziger Rafter aufgefallen war. Er hatte nichts mehr gesagt, seit wir das Ufer erreicht hatten, und als er plötzlich wissen wollte, was mit mir los sei und ob ich auch zurückgeschwommen wäre, wenn ich ihn nicht auf der anderen Seite stehen gesehen hätte, war das keine Frage mehr, und er sah mich nur eine Weile schweigend und kopfschüttelnd an. Dann legte er seine Hand auf meinen Unterarm und blickte mir in die Augen, als ob er unbedingt noch etwas hinzufügen müsste, aber obwohl er schon angesetzt hatte, unterließ er es und bewegte nur weiter seinen Kopf hin und her.
    Es war das Ende seiner Besuche, ziemlich genau in der Mitte des Sommers, und ich wartete ein paar Tage und ging dann zur Polizeiwache, wo ich von Dorothea erfuhr, er habe überraschend Urlaub genommen und sei nach Umbrien gefahren. Ich vermochte nicht einzuschätzen, ob er ihr erzählt hatte, was geschehen war, oder ob sie das gerade herauszufinden versuchte, aber als sie sagte, ich müsse ihm ganz schön zugesetzt haben, er sei am Morgen, nachdem er zum letzten Mal bei mir am Fluss gewesen war,
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