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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang
Autoren: Norbert Gstrein
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ich hätte nur ein paar Minuten zum Wasser hinunter gehabt und sei oft bis zur ersten Brücke spaziert, und er erwiderte lachend, wenn es danach gehe, sei ich mehr Türke als er, weil er das alles einzig und allein von Fotos kenne. Ich verschwieg ihm, was ich über den Toten bereits wusste, konnte mir aber nicht vorstellen, dass ihm noch nichts zu Ohren gekommen war, und wunderte mich mit jedem Satz, welche Konversation wir da trieben. Er war ein wacher Junge, und wenn es bei mir am ehesten aus Scham geschah, sah ich bei ihm keinen Grund, warum er sich auf das Spiel einließ. Er wurde nur immer höflicher, je länger wir uns unterhielten, und hatte stets noch eine Frage, geradeso, als wollte er mich ablenken und damit verhindern, dass ich noch einmal auf das Unglück zurückkam. Ich reichte ihm zum Abschied die Hand und winkte den anderen zu, und ich weiß noch, dass ich unnötig lange nachdachte, wie sie das wohl aufgenommen hatten und was sie über mich reden würden.
    Mein Unbehagen indes wuchs in den Tagen danach. Ich wunderte mich, wie schnell die Leute sich beschwichtigen ließen. Es kam mir vor, als wären die meisten zufrieden, dass sie endlich einen Täter mit einem klaren, wenn auch noch so abstoßenden Motiv hatten, und nicht dieses Phantom mit seinem »Kehret um!« und seinem »Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Betsaida!«. Es gab einen Toten, womit für sie Sühne getan war, und niemand schien Ohren zu haben für die nicht nur von Inspektor Hule geäußerte Skepsis, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun habe und der Verdächtige für die beiden Bombendrohungen vielleicht immer noch irgendwo sein Unwesen treibe. Es war vor allem Herr Frischmann, der die Geschichte ein für alle Mal aus der Welt schaffen wollte und sich dabei um Logik und Konsistenz wenig kümmerte, solange er zu dem Schluss kommen konnte, unsere Stadt könne nach den Monaten der Anspannung nun endlich aufatmen und wieder zu ihrem normalen Alltag zurückkehren. Ich bin unsicher, ob er es nicht besser wusste oder nicht besser wissen wollte, aber wann immer er in diesen Tagen im Bruckner auftauchte, und das geschah auf einmal fast täglich, wurde ich den Eindruck nicht los, er halte dort hof und lasse sich dafür feiern, dass er von Anfang an zur Ruhe gemahnt hatte. Wenn er mich sah, nickte er mir aus der Ferne zu, und ich verstand nicht, woher er dieses Einverständnis nahm. Ich tat dann so, als hätte ich ihn nicht gesehen, oder wandte mich ab und war froh, dass er wenigstens nicht versuchte, ein Gespräch mit mir zu beginnen, weil ich ihm sonst hätte sagen müssen, dass ich in so manchen Dingen nicht seiner Meinung war.
    Den Abend zum Herz-Jesu-Sonntag wollte ich zu Hause verbringen, hielt es dann aber doch nicht aus und ging bei Einbruch der Dämmerung auf die Straße. Ich kann nicht sagen, dass mir mulmig gewesen wäre, oder gar, dass ich Angst gehabt hätte, es könne etwas passieren, aber dennoch war es diesmal anders. Auch in den vergangenen Jahren hatte ich mich immer hinausbegeben, jedoch ohne dem eine Bedeutung beizumessen, und ich bekam jetzt nicht aus dem Kopf, was Herr Frischmann über den Freiheitskampf gegen die Franzosen geschrieben hatte. Es hörte sich an wie eine versteckte Botschaft, aber man musste kein Eingeweihter sein, um sie zu verstehen, und als ich auf den Hängen rundum die ersten Feuer sah, fragte ich mich, ob das alles vielleicht doch nicht ganz so harmlos war, wie es sich gab, und ob die Folklore nicht jederzeit in Ernst umschlagen konnte, wenn ein Funke auf die richtige Lunte übersprang. Ich erinnerte mich, dass man von der Raststätte einen besonders guten Blick in das Tal hatte, und entschloss mich, noch dorthin zu fahren, nachdem ich eine Weile in der Stadt herumspaziert war und mir schon überlegte, ob ich auf ein Bier ins Bruckner gehen solle. Es war vollkommen dunkel, als ich ankam, ein bewölkter, mond- und sternloser Himmel, und mein Blick fiel sofort auf den freistehenden Berg in der Ferne, um den im vorletzten Kriegsjahr vor seiner Notlandung der in Brand geschossene amerikanische Bomber gekreist war. Dort leuchteten auf einer riesigen Fläche erst einzelne Lichter auf, die sich allmählich zu Buchstaben zusammenschlossen, aber ich wusste, was herauskommen würde, bevor dann, weithin zu lesen, ein aus einzelnen flackernden Punkten zusammengesetztes INRI rot funkelnd auf dem schwarzen Grund erschien. Als Kind hatte ich die Bedeutung nicht verstanden, »Jesus von Nazareth, König der Juden«, und
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