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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok
Autoren: Myriam Keil
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    Es ist sein erster Tag. Als er das Klassenzimmer betritt, dämpfen wir unsere Stimmen mehr als üblich. Nicht aus Respekt oder Mitgefühl, glaube ich, sondern aus Unsicherheit. Wir wissen nicht, was wir sagen dürfen und was nicht, also sind wir einfach ein bisschen leiser mit unseren Worten. Auch mit den Geräuschen halten wir uns zurück, keiner will der Lauteste sein, der Auffälligste. Pias Lineal landet klappernd auf dem Boden, sie wird knallrot und taucht unter die Bank ab. Ich merke, dass sie am liebsten dort unten bleiben würde, doch dadurch würde sie noch mehr auffallen, also wartet sie nur einen kaum spürbaren Moment länger als nötig, bis sie sich wieder aufrichtet. Die rote Färbung in ihrem Gesicht ist vom Runterbeugen noch dunkler geworden.
    Â»Schlagt das Buch auf, Seite achtundsiebzig«, sagt Schneider.
    Er hat nicht hochgesehen bei diesem Satz. Die Stunde geht weiter und er trifft niemanden mit den Augen. Wenn er hochsieht, bohrt sich sein Blick in die Wand des Klassenzimmers oder wandert aus dem Fenster. Als wäre es einfach nicht nötig, als wäre es nie mehr nötig, uns anzusehen. Seine Stimme hingegen ist wie immer, dabei hätte ich erwartet, eine Veränderung daran festzustellen, irgendeine Angst herauszuhören. Ich frage mich, wie es für ihn sein muss, nach zwei Monaten in diese Räume zurückzukehren, in diese Flure, ob er ihre Akustik, den vertrauten Hall der Schritte und Worte, noch so empfindet wie früher oder ob etwas anders geworden ist. Bei mir hat sich die Wahrnehmung dieser Dinge vollkommen verändert. Die von den Wänden zurückgeworfenen Stimmen klingen hohl, verzerrt, die Schritte mal zu dumpf und mal zu hart. Ich möchte wissen, ob noch irgendjemand im Saal diese Verschiebungen bemerkt. Aber ich könnte sie niemals fragen, keinen von ihnen. Ich nicht.
    Â»Hey!«, wispert Basti vor mir und reicht Lena einen Zettel rüber, ich höre das Knistern des Papiers.
    Zwischen den beiden ist ein leerer Platz. Yasmin hat die Schule gewechselt, heißt es.
    Lena liest den Zettel, sieht zu Basti und schüttelt wortlos den Kopf. Dann lacht sie, aber auch dabei macht sie kein Geräusch. Seit ein paar Tagen geht das so, fast in jeder Stunde. Alle wissen, dass Basti Lena mag und dass Lena Basti mag, seit ziemlich genau drei Wochen, aber die beiden können es sich nicht sagen, nicht mal schreiben. Nur alberne Witzchen stehen auf den Zetteln, die nach der Stunde regelmäßig von Markus aus dem Papierkorb gefischt werden. Ich glaube, vor ein paar Monaten hätten sie nicht so lange gebraucht, um sich zu sagen, dass sie sich mögen. Jetzt allerdings ist jeder, der glücklich ist, einer, der ein schlechtes Gewissen haben muss, weil es hier so viele gibt, die unglücklich sind.
    Sascha ist der Erste, der sich in dieser Stunde meldet. Schneider ruft ihn auf, ohne ihn anzusehen. Als Sascha nach vorne kommen soll, um ein Schaubild zu vervollständigen, legt Schneider die Kreide auf der Ablage der Tafel ab, um sie ihm nicht in die Hand geben zu müssen.
    Das tapfere Schneiderlein ist zurück, hat Markus uns in der Pause zugerufen und dabei einen wilden Indianertanz vollführt. Ein paar von uns haben gelacht. Das tapfere Schneiderlein. Jetzt ist Markus genauso verlegen wie wir. In den letzten Wochen hat die Klasse allmählich zu einem Zustand gefunden, der zwar nicht Normalität ist, es aber vorgibt zu sein. Das bedeutet, dass auch der Klassenclown weiterhin Clown sein muss. Markus hat sich seiner Aufgabe gestellt, die meiste Zeit über gibt er sich wirklich Mühe.
    Â»Stimmt das so?«, fragt Sascha, weil Schneider seine fertige Arbeit an der Tafel nicht kommentiert.
    Â»Hm«, sagt Schneider. Es soll wohl »Ja« bedeuten, klingt aber, als wüsste er es selbst nicht.
    Sascha vergewissert sich mit einem Blick zu den beiden Klassenbesten, dass er alles richtig gemacht hat, und setzt sich wieder hin.
    Â»Gut«, sagt Schneider. Dann erläutert er das, was er zu Beginn der Stunde in einem einstudiert wirkenden Monolog über die Probleme urbaner Ökosysteme referiert hat, noch einmal. Fast wortwörtlich. Alle schauen sich ratlos an und alle schauen Schneider ratlos an.
    Â»Merkt der echt nicht, dass er das vorhin schon mal erzählt hat?«, fragt mich Charlotte nach einer Weile. Sie spricht es mir sehr leise direkt ins Ohr, ich spüre ihren warmen Atem und ein Geräusch, als
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