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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang
Autoren: Norbert Gstrein
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Matura. Wir wunderten uns, ob er noch in Bosnien sei, wo er nach Abbruch seines Studiums hingegangen war, um beim Wiederaufbau eines im Krieg zerstörten Dorfes mitzuhelfen, ob es stimme, dass er sich auf einem Frachtschiff verdingt hatte, oder ob er wirklich bei der jährlichen Verlosung zu einer Greencard gekommen sei und sein Glück in Amerika versuche, und als eine der letzten Möglichkeiten blieb immer Israel, weil er bereits in seiner Schulzeit einmal dort gewesen war und seither davon schwärmte. Dann wieder hieß es, er sei in einem Dorf zwanzig Kilometer flussabwärts als Handlanger auf einem Bau gesehen worden, er jobbe von Dezember bis März oder April in einem der Täler als Skilehrer und schlage sich die restlichen Monate irgendwie durch, fahre Lastwagen für eine Spedition, überstelle Neuwagen von Deutschland in die Türkei oder gar in den Iran oder den Irak oder lebe von der Hand in den Mund, wenn er nichts anderes bekomme oder keine Lust habe zu arbeiten.
    Agata gegenüber hatte ich ihn nicht nur einmal meinen besten Schüler genannt, und das sagte ich auch jetzt wieder. Ich glaube, »der vielversprechendste« war das Wort, das ich verwendete, und ich fügte hinzu »der klügste, der begabteste« und ärgerte mich im selben Augenblick über meine Nostalgie. Ich hatte mir nicht überlegt, welchen Verlauf das Gespräch nehmen würde, wenn ich nicht achtgab, aber als ich sah, wie sie sofort aufmerkte, war mir klar, dass ich es mit einem Satz in die Richtung gelenkt hatte, die mir am wenigsten behagte.
    »Du bist mir ein schöner Kindskopf, Anton«, sagte sie lachend, obwohl die Schwere in ihrer Stimme nicht zu überhören war. »Wenn du so weitermachst, trauerst du ihm noch in der Rente nach.«
    Außer ihr gab es unter meinen Bekannten niemanden, der mich mit meinem Namen ansprach, und ich hätte ihn auch sonst von keinem hören wollen. Bei ihr war es etwas anderes, war es nicht Ermahnung, nicht Festschreibung, gefälligst der zu sein, der ich immer schon gewesen war, sondern Staunen darüber, was wohl noch alles von mir kommen würde, und das schwang auch jetzt mit. Ich sah, wie sie ihre Zunge von einem Mundwinkel zum anderen gleiten ließ, und während ich überlegte, wie ich mich am besten herauswinden könnte, machte sie ein spitzes Geräusch zwischen den Zähnen und räusperte sich.
    »Ein Lehrer, der nicht von seinem Schüler loskommt.«
    »Da redet die Richtige«, sagte ich. »Was ist mit dir?«
    Ihre Anhänglichkeit hatte ich nie ganz verstanden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie in den Monaten, in denen Daniel regelmäßig ins Bruckner gegangen war, öfter als ein paar Mal auch nur wenige Worte mit ihm gewechselt hatte, und in den Jahren danach dürfte sie ihn nicht allzu oft gesehen haben. Fragen wollte ich sie nicht, aber ich brachte meine Verwunderung über ihre Beharrlichkeit zum Ausdruck.
    »Wo Daniel jetzt wohl ist? Erinnere dich, Agata. Du hast mich nicht hundertmal, du hast mich tausendmal gefragt. Was Daniel jetzt wohl macht?«
    Dabei bereute ich, sie überhaupt angesprochen zu haben. Ich schaute ihr zu, wie sie in der Pause, die dann entstand, noch einmal die Zeitung in die Hand nahm und so tat, als würde sie das Bild genauer studieren. Etwas Hartes war in ihr Gesicht getreten, und als sie sich wieder an mich wandte, schwang das auch in ihrer Stimme mit.
    »Es ist seltsam genug, dass wir uns alle von ihm haben einwickeln lassen. Nicht, dass ich das nach dem Foto sagen könnte, aber genau genommen hat er nicht einmal gut ausgesehen. Und dass er ein umgänglicher Mensch war, kann niemand behaupten. Er muss uns mit etwas anderem hypnotisiert haben.«
    Ich sagte, es sei seine Art gewesen, die Unbedingtheit, mit der er die Dinge ernst genommen habe, aber sie erwiderte nur, ein bisschen mehr Freundlichkeit hätte gewiss nicht geschadet, und schien sich plötzlich zu besinnen, worüber wir eigentlich sprachen.
    »Müsstest du nicht auf der Stelle zur Polizei gehen und Meldung erstatten, wenn du wirklich überzeugt bist, ihn zu erkennen, und Grund zu der Annahme hast, dass er es ist, der wegen der Sache gesucht wird?«
    Ich schwieg, aber ich war erleichtert, dass sie im selben Augenblick gerufen wurde. Vielleicht hätte ich ihr sonst gesagt, ich würde es nicht tun, aber es war auch so klar, und der ironische Blick, mit dem sie mich beim Aufstehen ansah, sollte deutlich machen, dass sie verstanden hatte. In ihm lag keine Komplizenschaft, eher eine aufgesetzte Verwunderung über das
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