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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang
Autoren: Norbert Gstrein
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oder ob sie gehört hatten, dass ich mich am Fluss aufhielt und sie deswegen herausgekommen waren, aber diese Frage stellte sich nicht mehr, als sie winkten, sobald sie merkten, dass ich auf sie aufmerksam wurde, und ich, ohne lange zu überlegen, zurückwinkte.
    Ich legte die Heckenschere beiseite, mit der ich gerade die wild wuchernden Büsche kaum weniger wild zurechtgestutzt hatte, zog die Handschuhe aus und machte ein paar Schritte auf sie zu. In den letzten Monaten hatte ich sie immer wieder bei mir zu Hause empfangen, wenn sie sich auf ihre berüchtigten Samstagnachmittagsrunden machten und ihre Lehrer besuchten, einmal beim einen, einmal beim anderen vor der Tür standen und warteten, dass sie hereingebeten wurden, und deshalb wunderte ich mich jetzt, wie fremd sie mir waren. Es musste mit der anderen Umgebung zu tun haben, mit der Abgeschiedenheit des Ortes oder damit, dass sie ihre Sturzhelme in der Hand behielten und mir nicht entgegenkamen. Nicht, dass ich mich bedroht fühlte, aber obwohl es keinen Grund dafür gab, dachte ich einen Augenblick, sie könnten auf mich losgehen, es könnte eine Rechnung zwischen uns offen sein, eine Summe, die sich über die Jahre ohne mein Wissen gegen mich addiert hatte und die sie nun begleichen wollten.
    Im Grunde genommen gaben sie ein unwahrscheinliches Paar ab. Damit meine ich nicht, wie sie in der Schule waren, und schon gar nicht, ob gute Schüler oder schlechte, auch wenn Daniels Ernsthaftigkeit sich deutlich abhob von dem Schlendrian, dem Christoph sich spätestens in der Oberstufe, aber wahrscheinlich schon davor ergeben hatte. Ich meine nicht die Jungen- oder sogar Mädchenhaftigkeit des einen und das manchmal ebenso Großsprecherische wie Grobschlächtige des anderen, der so schon auf die Welt gekommen zu sein schien. Nichts davon, und auch nichts, was sich über ihre Elternhäuser oder ihre Herkunft sagen ließe. Ich meine das, was sie hätte auseinanderbringen müssen, was sie aber immer stärker verband und im letzten Schuljahr unzertrennlich machte, und das war mit einem Wort Judith, mit zwei Worten ihre Liebe, mit drei, vier oder fünf Worten ihre vergebliche Liebe zu ihr. Schon im Jahr davor hatte ich beobachtet, wie sie fast gleichzeitig für sie entflammt waren, und ihre Freundschaft gründete darin, dass sie beide nicht in Frage kamen und nach den ersten Zurückweisungen die Rolle von zwei ironischen Verehrern einnahmen. Es war, als hätten sie unabhängig voneinander entschieden, anstatt zu schmachten sich über ihr Schmachten lustig zu machen, und so umtänzelten sie die Angebetete, schlugen immer neue Volten, staksten und scharwenzelten um sie herum und warfen sich ihr in den hellsten Begeisterungsausbrüchen zu Füßen. Man sah die drei in den Schulhof hinuntergehen und rauchen, sah sie mittags Arm in Arm davonschlendern, das Mädchen in der Mitte, großgewachsen, blond, den Rücken durchgedrückt, aber trotzdem fast keine Brüste, und links und rechts die beiden Stenze, die sich in ihrer Schlagfertigkeit gegenseitig zu übertreffen versuchten, manchmal ein paar Schritte rückwärts vor ihr herliefen und auf ein Lächeln, einen Blick, eine winzige Bemerkung von ihr hofften.
    Ohne Zweifel erklärt das auch ihre Ruhelosigkeit an den Samstagen, ihr endloses Umherstreifen mit dem Moped, ihre Überfallsbesuche, weil Judith da von ihrem Freund abgeholt wurde. Er war ein paar Jahre älter, studierte schon und kam nur an den Wochenenden zurück in die Stadt, und es muss viele Male geschehen sein, dass die beiden auf sie einredeten, nicht zu ihm zu gehen, ihn sitzen zu lassen, wenn sie sein Auto auf dem Parkplatz vor der Schule entdeckten. Dann gönnte sie ihnen fünf, gönnte ihnen zehn Minuten, gönnte ihnen eine letzte Zigarette vor dem Eingang, stimmte in ihre Witze über den Wartenden ein, sobald sein Hupen zu hören war, und ließ sie im nächsten Augenblick mitten im Satz stehen. Ich weiß nicht, wie sie es jedesmal wieder schafften, ungläubig zu schauen, wenn sie mit großen Schritten davoneilte, sich kurz nach ihnen umwendend, ihre Tasche schwenkend und lachend, wenn sie auf dem Treppenabsatz innehielt, bevor sie die Stufen hinunterstieg, seitwärts gehend wie eine Frau in hochhackigen Schuhen, und keinen Blick mehr für sie hatte.
    Daran erinnerte ich mich, während ich jetzt von ihnen wissen wollte, was sie schon wieder zu mir herausgeführt hatte. Sie stellten nicht einmal das Moped richtig ab und antworteten nicht, standen mit ihren
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