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Finster

Titel: Finster
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1
    In der Nacht, in der alles begann, war ich zwanzig und mein Herz gebrochen.
    Mein Name ist Ed Logan.
    Ja, auch Männern kann das Herz brechen. Nicht nur Frauen.
    Allerdings fühlt es sich eher wie ein leerer Magen als wie ein gebrochenes Herz an. Eine schmerzende Leere, die kein Essen lindert oder füllt. Sie kennen das sicher. Sie haben es bestimmt schon selbst erlebt. Es tut ständig weh, man ist ruhelos, kann nicht klar denken, wünscht sich beinahe, man wäre tot, aber eigentlich will man nur, dass alles wieder so ist wie vorher, als man noch mit ihr oder ihm zusammen war.
    In meinem Fall hieß sie Holly Johnson.
    Holly Johnson.
    Mein Gott, ich sollte lieber nicht von ihr anfangen. Es reicht wohl, wenn ich sage, dass ich mich im letzten Frühling, als wir beide im zweiten Jahr an der Willmington University studierten, Hals über Kopf in Holly verliebt habe. Und sie schien auch in mich verliebt zu sein. Aber dann war das Semester zu Ende. Ich fuhr nach Hause nach Mill Valley und sie in ihre Heimatstadt Seattle, wo sie als Betreuerin bei irgendeinem beschissenen Sommerlager arbeitete und was mit einem ihrer Kollegen anfing. Wovon ich allerdings erst zwei Wochen nach Beginn des Herbstsemesters
erfuhr. Ich wusste, dass sie nicht auf dem Campus war, aber hatte keine Ahnung, warum. Die Frauen aus ihrer Studentenvereinigung spielten die Unwissenden. Ihre Mutter wich mir am Telefon aus. »Holly ist gerade nicht zu Hause, aber ich richte ihr aus, dass du angerufen hast.«
    Dann, am ersten Oktober, kam ein Brief. »Lieber Ed, ich werde unsere gemeinsame Zeit nie vergessen …« Und so weiter. Sie hätte mir auch eine Briefbombe schicken können … einen Brief mit einer Voodoo-Bombe, die mich erst tötet und dann als Zombie wiederauferstehen lässt.
    Nach dem Brief blieb ich abends in meiner Wohnung und trank Wodka (den mir ein volljähriger Freund besorgt hatte) mit Orangensaft, bis ich die Besinnung verlor. Am nächsten Morgen wischte ich das Erbrochene auf. Dann musste ich den übelsten Kater meines Lebens durchstehen. Zum Glück war der Brief an einem Freitag eingetroffen. Am Montag hatte ich mich größtenteils von meinem Kater erholt. Von meinem Verlust nicht.
    Ich ging der Form halber zu meinen Seminaren, tat, als interessierte mich der Stoff, und versuchte, mich zu verhalten wie der Junge, den die Leute als Ed Logan kannten.
    An diesem Abend lernte ich bis ungefähr halb elf, oder besser gesagt versuchte zu lernen. Meine Augen wanderten die Zeilen entlang, aber meine Gedanken waren bei Holly. Ich schwelgte in Erinnerungen an sie. Und sehnte mich nach ihr. Und marterte mich mit plastischen Vorstellungen davon, wie sie mit meinem Nachfolger, Jay, ins Bett ging. Er ist so außergewöhnlich und einfühlsam , stand in ihrem Brief.

    Wie konnte sie sich in einen Typen verlieben, der Jay heißt?
    Ich hatte drei oder vier Jays gekannt, und alle waren Arschlöcher.
    Er ist so außergewöhnlich und einfühlsam.
    Ich wollte ihn umbringen.
    Ich wollte sie umbringen.
    Ich hasste sie, aber ich wollte sie zurück. Ich stellte mir vor, wie sie zurückkam und ich weinte, während wir uns umarmten und küssten. Sie weinte ebenfalls und stieß hervor: »Ich liebe dich so sehr, Ed. Es tut mir leid. Ich habe dich verletzt. Ich werde dich nie mehr verlassen.«
    Ja, klar.
    So ging es mir jedenfalls Montagnacht. Gegen elf gab ich das Lernen auf. Ich schaltete den Fernseher ein, starrte aber nur auf den Bildschirm, ohne wirklich wahrzunehmen, was dort geschah. Dann überlegte ich, ins Bett zu gehen, aber ich wusste, dass ich hellwach daliegen und mich mit Gedanken an Holly und Jay quälen würde.
    Schließlich beschloss ich, einen Spaziergang zu machen. Um aus meiner Wohnung rauszukommen. Um irgendwas zu tun. Um die Zeit totzuschlagen.
    Thoreau hat geschrieben: »Als könnte man die Zeit totschlagen, ohne die Ewigkeit zu verletzen.«
    Scheiß drauf, dachte ich. Scheiß auf Thoreau. Scheiß auf die Ewigkeit. Scheiß auf alles.
    Ich wollte durch die Nacht laufen, darin verlorengehen und niemals zurückkehren.
    Vielleicht würde mich ein Auto überfahren. Vielleicht würde mich jemand überfallen und ermorden. Vielleicht
würde ich zu den Gleisen wandern und mich vor den nächsten Zug werfen. Oder vielleicht würde ich einfach immer weiter laufen, aus der Stadt hinaus, aus dem Staat, einfach raus.
    Raus war alles, was ich wollte.
    Die Dunkelheit draußen roch süß und feucht, und ein sanfter Wind wehte. Die Oktobernacht fühlte sich eher
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