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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang
Autoren: Norbert Gstrein
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gut, wenn du dir eine solche Blöße gibst.«
    Unter diesem Blickwinkel hatte ich es bis dahin noch gar nicht betrachtet, aber jetzt sah ich das Bild vor mir, zwei Jungen am Fluss und ein Mann, von dem ich mir in dieser Formulierung gar nicht vorstellen konnte, dass es ich sein könnte, noch, was seine Rolle in einer auch nur irgendwie erzählbaren Geschichte wäre. Ich hatte wieder vor Augen, wie Daniel einmal quiekend wie ein Kind in das seichte Wasser am Ufer hineingerannt war und dann direkt an der Wasserlinie entlang flussaufwärts, mit den Armen rudernd oder eher flatternd, so kurz schien er vor dem Abheben zu sein, die Beine links und rechts hochwerfend, und ich hinter ihm her. Ich hatte es als Aufforderung verstanden und war ihm so lange nachgelaufen, bis ich ihn eingeholt hatte, und dann hatte ich in einer plötzlichen Eingebung meine Arme um ihn geschlungen und ihn einen Augenblick festgehalten, vielleicht auch mehr als nur einen Augenblick, ja, in meiner Erinnerung viel mehr. Er war ganz ruhig dagestanden, ein wenig vorgebeugt, und ich hatte meine Hand auf seine Knabenbrust gelegt und dieses Wort im Kopf gehabt, ich hatte meine Hand auf seine Brust gelegt und Knabenbrust gedacht, und wie kühl die Haut vom hochgespritzten Wasser war, und darunter das Pochen seines Herzens gespürt. Sonst nichts, auch nicht, dass er die Situation als so besonders wahrgenommen hätte wie ich. Er ging neben mir zurück, und kein Wort darüber, aber auch kein beredtes Schweigen, wie man vielleicht meinen mochte, er war wie immer, kam gar nicht auf die Idee, das Vorgefallene zu kommentieren oder aus Verlegenheit darüber hinwegzureden, und es war absurd, dass ich jetzt überlegte, ob uns jemand gesehen hatte, ein Spaziergänger oder einer von den Spannern, die sich angeblich in der Nähe der Badestelle im Unterholz herumtrieben, mir aber, wenn ich davon gehört hatte, immer wie Figuren aus einem Ammenmärchen vorgekommen waren.
    »Eine Blöße?«
    Der Direktor räusperte sich.
    »Nun ja, vielleicht nicht gerade eine Blöße.«
    Er machte vor dem Wort eine lange Pause, als müsste er es erst abschmecken, und schien dann zufriedener damit zu sein, als er sich eingestand.
    »Darüber, dass man nie den richtigen Ausdruck hat, brauchen wir nicht zu streiten, aber du verstehst«, sagte er. »Ich möchte dich nur bitten, ein bisschen vorsichtiger zu sein.«
    Ich wusste nicht, was ich mit diesem Ratschlag anfangen sollte, und wenn überhaupt, war der Effekt nur, dass ich die Dinge von da an genauer ins Auge fasste. Die beiden weihte ich nicht ein, aber wenn Daniel lesend in der Sonne lag und meine Oberschenkel als Kopfstütze benützte, rückte ich ein wenig von ihm ab, und ich warf Christoph ein Handtuch zu, wenn er sich nach dem Schwimmen nackt auf dem flachen Felsen ausstreckte, der sich von der Schotterbank ein Stück ins Wasser vorschiebt. Ich sagte ihnen, sie sollten sich etwas überziehen, wenn sie in kurzen Hosen den Fluss hinauf zur Badestelle gingen, aber sie lachten natürlich, fragten mich, ob ich glaubte, wir seien noch in der Schule, oder warum ich mich sonst als Sittenwächter aufspielte. Die Spaziergänger beäugte ich genauso, wie sie uns beäugten, wenn sie dem Grundstück zu nahe kamen, und als ich anfing, mir Gedanken zu machen, was man aus den vorbeifahrenden Zügen vom anderen Ufer sehen konnte, die an der Stelle manchmal geradezu aufreizend langsam waren und deren Waggons sich gleichzeitig vor und hinter den Bäumen auf der Böschung vorbeizuschieben schienen wie auf dem Bild eines Surrealisten, wusste ich, dass es eine Verrücktheit war, und hörte wieder damit auf. Ich sah den Raftern zu, die weiter oben am Fluss, noch weiter als die Badestelle, ein Camp hatten, in ihren großen Schlauchbooten herabtrieben, mit zehn, zwölf und mehr Mann, und immer in Feierlaune waren, sich lachend ankündigten und lachend wieder verschwanden, eine Invasion von gutmütigen Eroberern mit ihren Helmen und Schwimmwesten. Sie hoben grüßend die Paddel, wenn sie auf unserer Höhe waren, und von dort konnten es keine drei Minuten mehr sein, bevor sie in die Schlucht mit ihren Stromschnellen einfuhren und alle Hände voll zu tun hatten, um auf Kurs zu bleiben und nicht zu kentern. Drunten gewesen bin ich nie, obwohl es bei Niedrigwasser auch am Ufer entlang nicht viel mehr als eine halbe Stunde sein kann, aber ich wusste, dass Freunde dort von Zeit zu Zeit Blumen ablegten und dass dann wohl für Tage auch eine Kerze brannte, die
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