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Bittere Mandeln

Bittere Mandeln

Titel: Bittere Mandeln
Autoren: Sujata
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    Japaner laufen nicht. In einem Land, in dem alle Leute ohnehin zügig gehen, gibt es keinen Grund, seine Schritte noch mehr zu beschleunigen – abgesehen von Notfällen, zum Beispiel wenn man schnell in einen abfahrtbereiten Zug schlüpfen möchte. Während der vier Jahre, die ich nun schon in Tokio lebe, habe ich außer mir selbst nur ältere Menschen auf der Jagd nach niedrigeren Blutfettwerten und Teenager beim Versuch, ins Schulteam aufgenommen zu werden, joggend erlebt.
    Ich joggte jämmerlich langsam vor mich hin, um nicht ständig mit den Büroangestellten zusammenzustoßen, die die Straße bevölkerten. In der Stadt sind immer viele Menschen unterwegs, und es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, das es verbietet, die Leute anzurempeln. An der Roppongi Crossing mußte ich zwei Minuten an einer Ampel warten, bevor ich die Straße überqueren und zum drei Häuserblocks entfernten Kayama Kaikan weiterlaufen konnte. In diesem allseits bekannten Gebäude befindet sich die Zentrale von einer der führenden Ikebana-Schulen in Japan.
    Die Verspätung war meine Schuld. Ich hatte gemächlich meinen Frühstückskaffee getrunken, den Pflanzen Wasser gegeben und noch allen möglichen anderen Kleinkram erledigt, so daß ich schließlich von der Haltestelle zur Schule laufen mußte. Meine Tante Norie sagt mir immer wieder, daß meine Tätigkeit als selbständige Antiquitätenhändlerin mir die Möglichkeit gibt, meine Zeit selbst einzuteilen. Daß ich es nicht rechtzeitig zum Kaikan-Gebäude schaffte, war meine passivaggressive Reaktion auf ihre Erwartungen.
    Ich bin halb Japanerin und halb Amerikanerin und bemühe mich hin und wieder, mich an meine Verwandten väterlicherseits in Yokohama anzupassen. Ich verstehe die meisten Witze in Filmen, trinke Tee nach den japanischen Regeln und lege sogar meinen eigenen daikon -Rettich ein. Doch von Ikebana, der typisch japanischen Kunst des Blumenarrangements, hatte ich noch immer keine Ahnung. Als ich das letzte Mal zu viele Pflaumenzweige in ein Gefäß gestopft hatte, starrte meine Tante sie nur wortlos an. Kurz darauf erklärte sie mir, sie habe mich für einen Kurs an der Kayama-Schule angemeldet.
    Bisher war ich nur zweimal in der Schule gewesen, doch das genügte, um zu begreifen, daß bei Ikebana weniger mehr ist und ich lieber weniger Zeit damit verbrachte, in einem überheizten Kursraum Blumen zu arrangieren, und dafür mehr draußen im Freien. An jenem Dienstag morgen Ende März war das Wetter schön, die Temperaturen lagen über fünfzehn Grad. Es würde nicht mehr lange dauern bis zur sakura, der Kirschblüte, für die Japan so bekannt ist. In der Wettervorhersage der Morgennachrichten hatte es geheißen, die Kirschbäume in Tokio würden in etwa fünf Tagen zu blühen beginnen und danach nicht länger als zwei Wochen in ihrer ganzen Pracht zu bewundern sein. Den Zuschauern wurde empfohlen, ihre Kirschblütenfeste entsprechend zu planen.
    »Aber halten Sie die Augen offen, denn Wolken vor dem Mond deuten auf Stürme über den Blüten!« hatte der Sprecher mit einem albernen Lächeln hinzugefügt. Der Satz sollte nicht nur vor Regenfällen warnen, sondern war auch eine Anspielung auf ein altes Sprichwort, das besagt, daß selbst in Zeiten größten Glücks Unheil drohen kann.
    Vorhersagen sind eine unsichere Sache. Während meiner Zeit in Japan habe ich mich immer wieder über die vielen Leute gewundert, die behaupten, daß die Zukunft von Mustern bestimmt wird, die in die Vergangenheit zurückreichen. Ich selbst habe kein Geschick bei Vorhersagen; an jenem sonnigen Frühlingsmorgen hatte ich nicht die geringste Ahnung, was auf mich zukam. Die zweiwöchige Zeit der Kirschblüte sollte einen Sturm der Vernichtung und der Offenbarungen bringen, die keiner von uns – nicht meine kluge Tante, nicht der in puncto Lebensweisheiten so bewanderte Fernsehsprecher und am allerwenigsten ich selbst – vorhersehen konnte.

    Das Kayama-Kaikan-Gebäude wurde vor zwanzig Jahren hochgezogen, als Japan sich in der Zeit seines größten wirtschaftlichen Aufschwungs befand. Der asymmetrische Glasturm symbolisierte Innovation, Wohlstand und Macht, jene Eigenschaften, die der Kayama-Familie von Anfang an in ihrer Vermittlung der Ikebana-Kunst zum Erfolg verholfen hatten. Von Tante Norie wußte ich, daß diese Grundbesitzerfamilie die Schule in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts gegründet hatte. Damals wandte sich der Zweitälteste Sohn der Familie von seiner Ausbildung zum
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