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Bittere Mandeln

Bittere Mandeln

Titel: Bittere Mandeln
Autoren: Sujata
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Materialien, die die Natur uns an die Hand gibt, so realistische Arrangements wie möglich zu schaffen.«
    Ich bekam Schuldgefühle, denn schließlich war ich diejenige gewesen, die die letzten Kirschzweige aus dem Gefäß im Vorraum genommen hatte. Natürlich hätte ich schnell zu meinem Arrangement auf Tante Nories Tisch gehen und Sakura die wenigen minderwertigen Zweige anbieten können, die ich noch nicht gekürzt hatte, aber es war keine große Phantasie nötig, mir vorzustellen, wie herablassend sie darauf reagieren würde.
    »Ich werde Forsythien verwenden«, sagte Sakura zu Mari, die noch einmal nach draußen hastete, um ihr ein dickes Bündel grün-gelber Zweige zu bringen.
    »Bitte entfernen Sie die unteren Blätter«, wies Sakura ihre freiwillige Helferin an. Mari hatte ihre eigene Schere Sakura gegeben und war deshalb gezwungen, die Blätter mit den Händen abzurupfen.
    »Mit meinem Gesteck werde ich einen Kontrast zwischen Licht und Dunkel schaffen«, erklärte Sakura. »Das Gefäß ist ein Abflußrohr, das ich schwarz angemalt habe – ein ungewöhnliches Material, das das Bestreben der Kayama-Schule nach Innovation betont. Jedes Material von Rohren bis zu Maschendraht oder Papier läßt sich mit frischen Pflanzen kombinieren. Doch in jedem Fall müssen die Charakteristika der Materialien deutlich herausgearbeitet werden. Wenn keine wirkliche Beziehung zwischen Gefäß und Blumen besteht, wird auch das Arrangement nicht schön.«
    Ich hatte meine Zweifel, daß es Sakura gelingen würde, aus dem Rohr etwas Schönes zu machen. Sie steckte Forsythienzweige in Löcher, die sie zuvor an unterschiedlichen Stellen in das Rohr gebohrt hatte, und produzierte am Ende etwas, das große Ähnlichkeit mit einem schwarzen Tausendfüßler auf langen, pelzig-gelben Beinen hatte. Mit den Kirschzweigen hätte der Tausendfüßler rosafarbene Beine gehabt.
    Sakura stellte ihre Vielseitigkeit unter Beweis, indem sie weitere Forsythienzweige in einem alten Steingefäß anordnete, ein ziemlich klassisches Arrangement, bei dessen Anblick wir alle erleichtert aufatmeten. Sie beantwortete einige Fragen der Kursteilnehmer und machte sich dann, gefolgt von sämtlichen Frauen, daran, deren Arrangements in Augenschein zu nehmen. Die ersten Arbeiten lobte sie überschwenglich, reagierte aber erstaunlich kühl auf das Gesteck von Lila Braithwaite.
    »Wenn Sie die Idee der Form zu stark betonen, entgeht Ihnen das wahre Wesen der Pflanzen«, erklärte Sakura Lila, die nickte und ziemlich unglücklich aussah, als sie Mrs. Kodas Übersetzung hörte. Das windschiefe Kirschblüten-Arrangement von Lilas Freundin Nadine hingegen wurde mit einem freundlichen Lächeln sowie einem Kompliment für Nadines gutes Farbgefühl bedacht. Beide hatten mit denselben Materialien gearbeitet. Warum wurde die eine gelobt und die andere kritisiert?
    Sakura bewertete auch Mari Kumamoris Heidekrautgesteck negativ und meinte, das Blaßgrün des Seladon-Gefäßes sei nicht passend für die Blumen. Mari verneigte sich tief und bedankte sich für Sakuras weises Urteil. Ich war gespannt, was Sakura über Tante Nories Arrangement sagen würde. Meine Tante hatte mir erst vor kurzem erzählt, daß sie selbst, Eriko und Sakura im selben Jahr in die Schule eingetreten waren, daß aber Norie und Eriko eine über zehnjährige Pause gemacht hatten, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Sakura jedoch hatte nie geheiratet und war so allmählich zur Lehrerin aufgestiegen. Meine Tante hatte ein Lehrerdiplom zweiten Grades und Eriko eines dritten Grades, was bedeutete, daß beide Unterricht bei sich zu Hause geben durften, aber nicht in der Zentrale der Schule.
    Tante Norie hatte flauschig weiße Rhododendren verarbeitet und mit Loganbeerenranken akzentuiert. Das Arrangement in dem blauen Glasgefäß wirkte flott, genau wie meine Tante.
    »Nun, Shimura-san, Sie haben Rhododendron verwendet.« Sakura schwieg einen Augenblick. »Was für eine gewöhnliche Pflanze.«
    Dann verneigte sie sich leicht, und Tante Norie tat es ihr gleich. Als Norie sich wieder aufrichtete, sah ich die Verärgerung in ihrem Gesicht. Sakura hatte keine offene Kritik an ihr geübt, aber auch nichts gesagt, was sich als Lob interpretieren ließ. Sie hatte erklärt, Rhododendron sei eine gewöhnliche Pflanze. Nicht mehr und nicht weniger.
    Mit Eriko verfuhr sie ganz ähnlich. »Ein wirklich klassisches Gefäß«, sagte Sakura und klopfte dabei auf den glatten Bambusköcher, aus dem lange Gräser und
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