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Bittere Mandeln

Bittere Mandeln

Titel: Bittere Mandeln
Autoren: Sujata
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eine gespaltene Persönlichkeit«, meinte Richard. »Warum sonst hätte sie sich so verhalten? Japaner haben ausgesucht gute Manieren. Sie würden sich lieber lebendig begraben lassen, als eine Szene zu machen.«
    Zwei Tische weiter beschloß plötzlich ein japanischer Junge, auf seinen Stuhl zu steigen und laut ein Lied von Oasis zu singen.
    »Was hast du da gerade über die Japaner gesagt?« fragte ich Richard.
    »Ich habe vom Durchschnittsjapaner gesprochen. Der Junge hier ist sechzehn, und außerdem hat er ein bißchen zu viel getrunken«, sagte Richard und sah sich den Teenager genauer an. »Hey, glaubst du, der könnte Interesse haben, sein Englisch zu verbessern?«
    »Er hat ’ne Freundin.« Ich deutete mit dem Kopf in Richtung eines Mädchens mit rotgefärbten Haaren und einer Hello-Kitty-Lunchbox.
    »Woher willst du das wissen? Die beiden könnten doch auch bloß gute Freunde sein, ganz platonisch, wie wir.«
    Als ich damals nach Tokio gekommen war, hatten Richard und ich uns eine ziemlich jämmerliche Wohnung geteilt und beide Vertretern für Küchenutensilien Englischunterricht gegeben. Aufgrund meiner kurzen, aber intensiven Liaison mit einem schottischen Anwalt hatten wir uns auseinandergelebt. Wie die meisten Ausländer hatte auch Hugh Glendinning Japan schließlich wieder verlassen. Zu Hause in Schottland hatte er sich dann an der Organisation des neuen Parlaments beteiligt und sich laut Aussagen des Tatler -Magazins mit der ehrenwerten Fiona Soundso eingelassen. Nach der Lektüre des Artikels hatte ich bei Hugh angerufen, um Näheres zu hören, aber die Auskunft erhalten, es gebe keinen Anschluß mehr unter dieser Nummer.
    In meinem Gefühl der Verlassenheit hatte ich mich in die Arbeit gestürzt und irgendwann genug Geld gehabt, um eine kleine Zweizimmerwohnung in Yanaka, einem alten Viertel in der Innenstadt, zu mieten. Die Wohnung befand sich im Erdgeschoß eines siebzig Jahre alten, kaum je renovierten Holzhauses. Den meisten Japanern erschien es offenbar als Horrorunterkunft, aber ich fand es irgendwie hübsch. Ich hatte die Wände in der Farbe getrockneter Persimonen gestrichen, frische tatami- Matten ausgelegt und eine nagelneue pfirsichfarbene Badewanne sowie dazu passende Boden- und Wandfliesen angebracht. Es gab weder Zentralheizung noch Klimaanlage, doch ich liebte die Wohnung, die den Vorteil hatte, nicht allzuweit von Richards Sprachenschule in Ocha-no-mizu entfernt zu liegen. Nach dem Unterricht kam Richard oft zum Essen vorbei; manchmal gelang es mir sogar, ihn zu sonntagmorgendlichen Einkaufstouren auf dem Antiquitätenmarkt zu überreden. Dabei war mir seine Gesellschaft wichtiger als seine Muskelkraft. Mit seinen nicht mal einsfünfundsechzig war er genauso groß wie ich, aber schlanker. Seine Zierlichkeit sowie sein weißblondes Haar und seine blauen Augen ließen ihn ein wenig wie einen jener Engel wirken, die zur Weihnachtszeit in allen Schaufenstern von Tokio zu finden waren. Oft boten ihm Frauen an, ihm beim Tragen zu helfen, was uns beiden gelegen kam.
    »Ich finde, du solltest wieder in den Ikebana-Kurs gehen. Schon allein um zu sehen, was nächste Woche passiert. Dann würdest du auch mal ein paar respektable Leute kennenlernen.«
    »Was meinst du damit? In dem Kurs sind bis auf einen ziemlich faulen jungen Mann, der seiner Kleidung nach zu urteilen Florist sein könnte, lauter Frauen. Wenn er noch ein paar Kirschzweige für Sakura aufgetrieben hätte, hätte sie sich vielleicht nicht so aufgeführt.«
    Richard hob fragend die Augenbrauen. »Glaubst du, er ist schwul?«
    »Bloß weil er mit Blumen arbeitet, muß er noch lange nicht schwul sein. Du solltest dich wirklich schämen, solche Klischees von dir zu geben.« Allerdings mußte ich insgeheim zugeben, daß ich mir ganz ähnliche Gedanken gemacht hatte, als der junge Mann im Kurs mich kaum wahrnahm.
    »Ich würde nur einfach gern jemanden kennenlernen, ja? Nun reg dich nicht gleich so auf«, sagte Richard, den Mund voller Donut. »Was ist denn der Grund, daß Sakura und deine Tante sich nicht verstehen? Hat deine Tante dir das erzählt?«
    »Natürlich nicht. Sie ist in die Damentoilette verschwunden und erst nach zehn Minuten mit roten Augen und einem kleinen weißen Mundschutz wieder aufgetaucht. Sie hat gesagt, sie muß nach Hause, weil ihre Allergien ihr wieder zu schaffen machen.«
    So abwegig war diese Erklärung nicht, denn viele Japaner tragen einen solchen Mundschutz gegen Zedern- und Kirschblütenpollen. Tante
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