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Bittere Mandeln

Bittere Mandeln

Titel: Bittere Mandeln
Autoren: Sujata
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buddhistischen Mönch ab, beschloß aber, anderen sein Wissen über das stilgerechte Arrangement von Blumen zu vermitteln, das er selbst von seinen Lehrern im Tempel erhalten hatte.
    Die Schülerinnen des ersten iemoto oder Lehrers waren die gesellschaftlich ambitionierten Ehefrauen aus Japans wachsender Händlerschicht – ähnlich wie die heutigen Schülerinnen waren fast alle mit einem salaryman, heute würde man das Wort mit »höherer Büroangestellter« übersetzen, verheiratet. Die Kayama-Schule sowie viele andere Ikebana-Schulen florierten auch im zwanzigsten Jahrhundert, aber nach dem Zweiten Weltkrieg gab es nur noch wenige japanische Frauen, die sowohl das Geld als auch die Muße besaßen, ihre Ikebana-Studien fortzusetzen. Da der iemoto die Schule nicht schließen wollte, lud er die Frau eines amerikanischen Generals ein, sich seine Arbeiten anzusehen, und sobald sie sich bei ihm eingeschrieben hatte, folgten viele andere Offiziersfrauen. Die Philosophie der Kayama-Schule wurde durch die neuen Schülerinnen und durch ihren weltläufigen Leiter avantgardistischer und internationaler. Ende der sechziger Jahre, also ein ganzes Jahrhundert nach Eröffnung der Schule, machte das niedrige Gebäude, in dem noch meine Tante ausgebildet worden war, einem Mehrstöcker Platz, der schließlich dem glänzenden neuen Glasturm weichen mußte.
    Als ich durch die riesigen Glastüren trat, fiel mein Blick auf das Wahrzeichen der Kayama-Schule, eine Skulptur aus schartigen Sandsteinblöcken. Es wäre interessant gewesen, mir die Blumengestecke in dem Steingarten genauer anzusehen, aber dazu hatte ich keine Zeit. Also trat ich in den großen Aufzug mit den Spiegelwänden und dem glänzenden Granitboden und fuhr in den Kursraum im dritten Stock hinauf.
    Vor dem Raum standen hohe Behälter mit allen möglichen Blumen und Zweigen. Von meinem vorhergehenden Kurs wußte ich, daß jeder Schüler sich daraus Material auswählen konnte – Zweige, die dem Arrangement eine Grundstruktur verliehen, und kleinere, dekorative Blumen, die den Akzent setzten. An jenem Tag nahm ich die letzten noch verbliebenen Kirschzweige sowie ein paar weiße Astern und schlüpfte ins Zimmer, wo ein Dutzend Frauen an den beiden langen Tischen arbeitete. Tante Norie schnitt gerade mit ihrer besten Freundin Eriko an einem Tisch gleich beim Lehrerpult Loganbeerenzweige. Norie und Eriko hätten Zwillinge sein können: Beide waren sie schlanke Hausfrauen Anfang Fünfzig, die höchstens wie fünfunddreißig aussahen. Sie trugen einen Pagenschnitt und ganz ähnliche Gabardinehosen, dazu Seidenblusen mit hochgekrempelten Ärmeln, so daß man ihre haarlosen Unterarme sah. Wieso die beiden es für nötig hielten, sich die Unterarme zu rasieren und zum Ikebana-Kurs Seidenblusen zu tragen, war mir ein Rätsel. Ich hatte einen kurzärmeligen gestreiften Baumwollpullover und eine ausgestellte Jeans an, die ich in einer Teenager-Boutique im Harajuku-Viertel gekauft hatte. Wahrscheinlich hielt meine Tante diese Jeans, obwohl sie tiefschwarz war, nicht für ein jungen Damen angemessenes Kleidungsstück.
    »Ach, da kommt Rei-san ja endlich!« flötete Eriko, die mich lange genug kannte, um mich mit dem Vornamen anzusprechen.
    Tante Norie legte ihre Ikebana-Schere mit den scharfen, furchterregenden Klingen beiseite und musterte mich von oben bis unten. »Hast du die richtige U-Bahn-Station verpaßt?«
    »Nein. Ich war bloß zu spät dran. Entschuldigung«, sagte ich und ließ mich auf dem Hocker neben ihr nieder.
    »Deine Haare sehen hübsch aus. Aber diese riesigen, häßlichen Schuhe!« Norie zuckte beim Anblick meiner Laufschuhe angewidert zusammen. Ich hatte ihr einmal erklärt, daß modebewußte Teenager Asics wie die meinen nicht nur zu Jeans, sondern sogar zu Kleidern trugen, aber sie hatte geantwortet, eine achtundzwanzigjährige Antiquitätenhändlerin könne es sich nicht leisten, wie eine Achtzehnjährige herumzulaufen.
    »Wenn ich die Schuhe nicht angehabt hätte, wäre ich noch später gekommen. Nur mit denen kann ich rennen«, wehrte ich mich.
    »Du hast noch nichts versäumt«, versuchte Eriko, die Wogen zu glätten. »Es ist genug Zeit, ein Gesteck fertigzubringen, bevor Sakura-san die Stunde beginnt. Nimm dir wie letztes Mal einen Behälter vom Regal.«
    Zu Hause hätte ich die drei Kirschzweige innerhalb weniger Minuten arrangiert. Aber hier in der Schule war ich nervös, und die Zweige wollten einfach nicht so halten, wie ich mir das vorstellte. In der
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