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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang
Autoren: Marie Ndiaye
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dem Dorf«, murmelte Herman. »Wir wohnen von September bis Juni in Paris. Außerdem liegt unser Haus weit außerhalb, um die achthundert Meter vom eigentlichen Dorf entfernt.«
    »Aha, interessant.«
    Der junge Mann nickte, seine Mundwinkel zogen sich mechanisch zu einem wohlanständigen, förmlichen Lächeln auseinander. An seinem Lächeln, seiner Lässigkeit, an seiner beinahe galanten Geziertheit erkannte Herman plötzlich, daß er nicht die geringste Absicht hatte, zumindest nicht an diesem Abend, seine Angelegenheit zu bearbeiten, und sei es auch nur, indem er aufschrieb, was Herman ihm schilderte, und daß vielleicht sogar sein künstlich-legerer Ton kein anderes Ziel hatte, als ihm dies ohne Grobheit zu verstehen zu geben. Da er ihn so wenig geneigt sah, sich seines Falls anzunehmen, kamen Herman Zweifel daran, ob dies am nächsten Morgen sehr viel anders sein würde.
    Das Los von uns Parisern läßt ihn gleichgültig, dachte er, was uns passieren mag, betrifft ihn nicht.
    »Wenn der Sommer vorbei ist, gleich nach dem einunddreißigsten August, wollen Sie nichts mehr mit uns zu tun haben, nicht wahr? Wenn wir uns darauf versteifen, hier den Herbst abzuwarten, dann auf eigene Gefahr, dann bleiben wir uns selbst überlassen, und keine Behörde schützt uns mehr. Wir verlieren in Ihren Augen jede Daseinsberechtigung, stimmt’s?«
    Der Polizist protestierte gekränkt. Er beteuerte,Fremde könnten zu jeder Jahreszeit mit der Hilfe und dem Schutz der örtlichen Ordnungskräfte rechnen, und im übrigen sei es nicht an ihnen, den Polizisten, ja nicht einmal dem Bürgermeister, Gemeinderat oder Präfekten, zu beschließen, daß dem anders sein sollte.
    »Aber gibt es denn im Herbst hier Fremde? Treffen Sie zu irgendeiner anderen Jahreszeit als dem Hochsommer welche an?« fragte Herman, etwas nervös und weniger freundlich, als er gerne erschienen wäre.
    »Um die Wahrheit zu sagen: Niemals.«
    Und der junge Mann fügte bereitwillig hinzu, Herman sei der erste Pariser, den er bei Herbstregen sehe, in dieser beißenden Kälte, die hier unfehlbar am ersten September hereinbreche, um erst um den fünfzehnten Juni herum wieder zu weichen. Er äußerte sich nicht dazu, ob es für ihn Gutes verhieß oder nicht, daß zum ersten Mal ein Feriengast die Sommergrenze überschritten hatte, ob diese Neuheit ihm, dem Dorfbewohner, angenehm war oder im höchsten Maß mißfiel. Herman war so begierig, das zu wissen, daß es fast schmerzte. Er verschränkte die Arme und setzte eine ungezwungene Miene auf.
    »Liegt für mich irgendeine Gefahr darin, länger hier zu bleiben? Besteht das Risiko, daß ich mir die Feindseligkeit der Bewohner zuziehe?«
    »Nein, nein, natürlich nicht!«
    Der junge Mann verstärkte sein Lächeln, vollführte mit beiden Händen beruhigende Gebärden und versicherte, alle Leute hier wären glücklich über die Gelegenheit, ihre Gastfreundschaft zum Ausdruck zu bringen, die bei vielen eine wahre Manie sei.
    »Abgesehen davon werden Sie ja nach Hause zurückkehren, sobald Sie Ihre Familie wiedergefunden haben, nicht wahr?« schloß er mit einer Art übertriebener Ehrerbietung, als entglitten ihm, so kam es Herman vor, die straffgehaltenen Zügel der perfekten, kodifizierten Höflichkeit plötzlich ein wenig.
    »Wie soll ich sie ohne Ihre Hilfe wiederfinden? Sie haben nicht einmal die Personenbeschreibungen notiert, die ich Ihnen gegeben habe!« rief Herman aus.
    »Kommen Sie morgen wieder. Heute abend ist es zu spät, habe ich Ihnen gesagt. Offiziell ist mein Dienst seit einer Stunde zu Ende, ich habe das Licht ausgemacht, und normalerweise kommt niemand auf den Gedanken, ein dunkles Gebäude zu betreten.«
    Mit diesen Worten verbeugte sich der Polizist, den Blick starr auf Hermans Schuhe gerichtet. Herman seufzte, dann wandte er sich dem Ofen zu, um sich den Bauch etwas aufzuwärmen. Er konnte sich nicht entschließen, den Rückweg anzutreten, über einen Kilometer durch den Regen, um dann in seinem stillen Haus umherzuirren, das ihm unter einem solchenHimmel fremd war, und sich zu grämen. Nachdem jedoch seine Kleider trocken waren, hatte er keinen Vorwand mehr, sich noch länger auf der Polizeiwache herumzudrücken. Er verabschiedete sich von dem jungen Mann und ging.
    »Mein Gott, was soll ich tun?« stöhnte er, als er draußen stand.
    War er je in solcher Bedrängnis gewesen? Er fühlte sich so schwach, so wenig darauf vorbereitet, eine derartige Lage zu meistern. Um nicht wieder an den Läden vorbeigehen
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