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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang
Autoren: Marie Ndiaye
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zu müssen, beschloß er, den Pfad zu nehmen, der das Dorf umging und direkt auf die Anhöhe führte, auf der sein Haus lag, wie auch die Häuser vieler anderer Pariser, alle nun für das übrige Jahr geschlossen. Es regnete noch immer. Mit der Dunkelheit verschärfte sich die Kälte. Herman arbeitete sich durch die Nacht voran, murmelte mit zitternder Stimme vor sich hin: »Mein Gott, mein Gott«, und dachte zum ersten Mal, es wäre gut, sein Haus im Dorf zu haben, zwischen den anderen, und durch eine beleuchtete Straße nach Hause zu gehen, wo er vielleicht ein paar Bekannte getroffen hätte, denen er sein Leid hätte klagen können. Er hatte im übrigen das Gefühl, wahrscheinlich beeinflußt von den Worten des Polizisten, Rose und das Kind hätten sich nicht auf diese Weise in Luft auflösen können, wenn sie aus einem dieserHäuser gekommen wären, die so eng zusammenstanden, daß einem darin gewiß nichts entging, was nebenan passierte, rechts und links, und wenn sie zum Eierholen statt über den wenig begangenen Weg zum Gehöft, der wie ein Graben zwischen den von hohen Brombeerhecken gesäumten Feldern verlief, einfach in das Milchgeschäft des Dorfes gegangen wären, wo die Eier desselben Gehöfts verkauft wurden. Kein Dorfbewohner sei jemals verschwunden, hatte der Polizist versichert, und davon war Herman fest überzeugt. Aber er glaubte ebenso sicher, daß im Hochsommer auch noch kein Fremder ein solches Mißgeschick erlitten hatte, und da sie, Rose und er, die ersten zu sein schienen, die bis in den Herbst hinein blieben, würden sie auch als erste die Kosten dieser einmaligen Erfahrung tragen.
    »Wenn man vor eine Prüfung gestellt wird, darf man sich der Prüfung nicht entziehen«, murmelte Herman, zitternd vor Schrecken. »Aber werden wir morgen abreisen können? Ach, mein Gott, mein Gott …«
    Die Schule fing in fünf Tagen wieder an. Er wollte nicht daran zweifeln, daß sie alle drei schon viel früher zurück in Paris sein würden, gleichwohl hatte er jetzt schon Angst vor der Unordnung, die diese Begegnung mit der dörflichen Nachsaison in seinem besonnenen Geist anrichten würde, eine Begegnung, die er nun, daer gekrümmt und durchgefroren den Pfad entlangstolperte, nicht mehr als Privileg empfand.
    »Verfluchter Herbst«, murmelte er, »verfluchte Gegend. Zwei Wochen länger hier, und ich würde eingehen. Aber niemand wird sagen können, wir hätten uns der Prüfung entzogen, nicht einmal der Kleine.«
    Er hatte einige Mühe, im Nebel das Haus wiederzufinden, denn es war nun nicht mehr von den Gartenlampen beleuchtet, die im Sommer vom Abend bis zum Morgen auf den Nachbargrundstücken brannten. In den Zimmern herrschte Eiseskälte, und das Haus hatte keine Heizung. In den zehn Jahren, seit sie in die Gegend kamen, hatten Herman und Rose bis zum einunddreißigsten August immer nur beständige Hitze erlebt. Lediglich der Anblick der blendend-grünen, fast unecht wirkenden Weiden hatte sie ahnen lassen, daß es nicht das ganze Jahr über so sein konnte, doch sie hatten nie daran gedacht, ihre träge Annahme durch Nachfragen zu überprüfen.
    Herman zündete die vier Flammen des Gasherds an und schleifte eine Matratze in die Küche. Die Unbequemlichkeit und die Kälte ließen ihn vollends verzweifeln. Er konnte, wie er meinte, nichts Besseres tun, als zu versuchen zu schlafen, um am nächsten Morgen früh aufzustehen und sich aktiv auf die Suche zu machen. Er dachte schweren Herzens: Man kannnicht hilfloser sein, als ich es bin. Auf dem Pfad eben habe ich vor Schrecken mit den Zähnen geklappert, ich habe um meine Haut gezittert und darüber die Meinigen vergessen. Niemals werde ich in der Nacht den Mut aufbringen, loszuziehen und den Weg, die Hecken zu durchforsten. Nein, ich brauche die Hilfe der Polizei, gleich morgen.

    2 Nachdem er die Nacht darüber geschlafen hatte, kam es ihm jedoch am Morgen, als er an seine Unterredung mit dem so wenig dienstwilligen Polizisten zurückdachte, klüger vor, erst einmal mit dem Bürgermeister des Dorfes zu reden. Er wußte, daß dieser keine direkte Macht über die Polizei besaß, aber ihm schien, er sei immerhin eine Art Chef und stünde ihm, Herman, von seinem Alter und seiner Bildung her doch näher als diese jungen Dorfpolizisten, und insofern würde er den dramatischen Charakter der Situation sofort erfassen und seinen moralischen Einfluß geltend machen, um letztere dazu zu bringen, unverzüglich Ermittlungen aufzunehmen.
    Der Himmel hing tief, es
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