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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang
Autoren: Marie Ndiaye
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drei in die Hauptstadt zurückreisen würden: Ach, ich verstehe die Leute hier einfach nicht!
    Sie wirkte überrascht und räusperte sich leicht. Ihre Arme hoben sich seitwärts zu einer Ohnmachtsgeste, pralle und sehr rosige Arme, deren Fleisch, von den kurzen Blusenärmeln eingezwängt, über dem Ellenbogen einen Wulst bildete.
    »Es ist niemand gekommen«, sagte sie schließlich. »Heute haben wir nur den Feldhüter gesehen.«
    »Das kann nicht sein!« rief Herman aus.
    Seine ganze Gereiztheit kehrte zurück, gesteigertvon einer Angst, wie er sie noch nie empfunden hatte. Er fuchtelte mit dem Zeigefinger unter dem Kinn der Bäuerin herum.
    »Erst behaupten Sie, es sei niemand gekommen, und gleich darauf, der Feldhüter sei da gewesen: Das ist ein Widerspruch! Warum sollten Sie dann nicht auch meine Frau und meinen Sohn gesehen haben, da sie mir doch gesagt hatten, sie würden Eier holen gehen?«
    Sie lächelte weiter, erstaunt, gelassen. Es kam dem Lehrer vor, als gebe sie es auf, ihn zu verstehen, lege jedoch Wert darauf, einen gleichbleibend guten Willen zu bekunden, vielleicht aufgrund jener Höflichkeit gegenüber allen Besuchern, der man sich in diesem Landstrich verpflichtet fühlte, jeder Beleidigung zum Trotz, ganz gleich, was man in seinem tiefsten Inneren empfand. Vor lauter Angst verlor er den Kopf. Und statt rasch zurückzugehen, um zu versuchen, so schnell wie möglich herauszufinden, wo sich Rose und der Junge befanden, dachte Herman nur noch daran, ins Haus zu gelangen, bereit, die Frau notfalls beiseite zu stoßen, um sich eine kurze Weile, so dachte er, in die Küche zu setzen, an den Ofen, seine Kleider zu trocknen und sich dann zu bemühen, diese Bauersfrau in Ruhe zu befragen, die am Ende, wenn Herman ihr Schritt für Schritt darlegte, so wie er es mit begriffstutzigen Schülern tat, daß ihre erste Behauptung nicht haltbar war, wohl oder übel würde eingestehen müssen, es könne nicht sein, daß sie Rose und das Kind an diesem Nachmittag nicht gesehen hatte.
    »Lassen Sie es mich Ihnen erklären«, beharrte er nervös, »ich versichere Ihnen, Rose ist gekommen. Wohin sollte sie denn bei diesem Wetter sonst gegangen sein?«
    »Warm ist es nicht«, stimmte die Frau zu.
    Und sie hörte nicht auf, ihn anzulächeln und ihm taktvoll die Stirn zuzuneigen, sobald er das Wort ergriff, eine Bewegung von erlesener Liebenswürdigkeit, die den Lehrer aus der Fassung brachte. Benahm er sich selbst, sosehr er auch um seine Würde bemüht war, nicht furchtbar unehrerbietig, und würde sein Ruf im Dorf nicht davon abhängen, was diese Frau von ihrer Unterhaltung gewiß weitererzählen würde? In den zehn Jahren, seit Rose und er die Sommerferien in dieser abgelegenen Gegend verbrachten, war es für ihn stets Ehrensache gewesen, sich höchst korrekt zu verhalten, so wie es sich nach seiner Auffassung für Hauptstadtbewohner gebührte, die darauf bedacht waren, ihren Wert erkennen zu lassen, ohne jedoch damit großtun zu wollen. Und nun war er ganz gegen seinen Willen, gleichsam berauscht vor Sorge, drauf und dran, in den Augen dieser Frau und ihrerLandsleute mit ihren seltsamen, gepflegten Manieren als Rüpel dazustehen.
    »Entschuldigen Sie«, sagte er, »es ist nur so, sehen Sie, ich weiß wirklich nicht, wo meine Frau …«
    »Ja, natürlich, das Wetter wechselt hier bei uns so plötzlich, das muß man wissen.«
    In der Annahme, er verabschiede sich, lächelte sie noch breiter, verbeugte sich ziemlich tief und trat sogar so weit auf die Schwelle vor, daß sie etwas naß wurde, um ihm mit einer anmutigen Handbewegung das Tor zu zeigen, ganz unnötigerweise, da Herman ja durch dieses den Hof betreten hatte, doch sie bewies damit erneut ihre äußerste Höflichkeit und Weltgewandtheit. Er verbeugte sich, wie sie es getan hatte, fühlte sich dabei jedoch unbeholfen, und der Regen fiel ihm in den Nacken, rann seine Wirbelsäule hinab. Zitternd machte er auf dem Absatz kehrt und ging langsam auf das Tor zu. Hinter ihm schloß die Frau die Tür, und schon erlosch jedes Licht im Erdgeschoß, was er nicht umhin kam unhöflich zu finden. Wahrscheinlich hatte er sie so sehr belästigt, daß sie es ausreichend fand, ihre Liebenswürdigkeit auf ihren Gesichtsausdruck und ihre Körpersprache zu beschränken, solange er sie ansah, und vielleicht beinhaltete der Verhaltenscodex gegenüber Fremden, der in ihrer Gegenwart höchste Freundlichkeit gebot, nicht auch noch die Pflicht,ihnen gefällig zu sein, wenn sie einem den
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