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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang
Autoren: Marie Ndiaye
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Rücken gekehrt hatten.
    Auf dem Weg begann Herman zu laufen. Voller Panik stellte er schon von weitem fest, daß zu Hause kein Licht brannte, was bedeutete, daß Rose nicht zurückgekommen war, weshalb er weiterrannte und sofort den Weg ins Dorf einschlug; dabei schnaufte er laut und stieß unwillkürlich kleine Schreie und Rufe aus.
    »Bei so einem Wetter«, stammelte er panisch, »ist das nicht sonderbar … erschreckend … Und der kleine Mann, bei der Kälte …«
    Die plötzlich winterlichen Temperaturen versetzten ihn vollends in Furcht und Schrecken und festigten seine Überzeugung, daß Rose und er, indem sie einen Tag zu lang mit ihrer Abreise gewartet hatten und den Monat September, den sie sonst immer in Paris erlebten, hier auf sich zukommen ließen, sich unbekannten Störungen ausgesetzt hatten, einer Art von Störungen, der sie vielleicht nicht gewachsen waren. Denn was wußten sie schon über den Herbst in dieser Gegend und über die Sitten ihrer Bewohner, sobald diese davon ausgehen konnten, daß die Fremden abgezogen waren? Tatsächlich hatten sie von alldem, wenn der Sommer einmal zu Ende war, keine Ahnung.
    Wir unterschätzen die Gefahren des Landlebens, dachte Herman keuchend, der Regen, der Wind in denHohlwegen, diese ungeschliffenen Menschen, die uns vielleicht nach dem einunddreißigsten August nicht mehr hier herumlungern sehen wollen … Was für ein Mangel an Scharfblick, an Fingerspitzengefühl …
    Er kam nicht auf den Gedanken, Rose könnte in einem der zahlreichen Läden des Dorfes zu finden sein, so wenig sah es seiner Frau ähnlich, stundenlang durch die Geschäfte zu bummeln. Im übrigen hatten weder Rose noch Herman und nicht einmal der kleine Junge im Dorf Freunde, die sie hätten besuchen können, und sie kannten niemanden, bei dem Herman hätte klingeln können, um zu fragen, ob man Rose nicht habe vorbeikommen sehen, und das, obwohl sie alle drei den ganzen Sommer über jeden Tag ins Dorf hinabgingen, um ein paar Besorgungen zu machen, und jedermann sie vom Sehen kannte. Doch in höchster Sorge bei irgend jemandem um Nachricht von Rose zu betteln, konnte Herman sich nicht erlauben, das spürte er genau, es wäre anstößig oder ungehörig, ja eine schwere Übertretung der herrschenden Verhaltensregeln, deren Geist er zu ahnen begann, wenn er auch ihren genauen Wortlaut nicht kannte.
    Kurz vor dem Dorf hörte er auf zu rennen und bemühte sich trotz seiner zitternden Knie und seines triefenden Gesichts um einen lässigen Gang.
    Man wird sich fragen, warum ich keinen Regenschirm habe, sagte er sich voller Unbehagen.
    Die Hände in den Taschen vergraben, ging er dreimal um den menschenleeren Platz herum, und plötzlich wurden seine Schultern von regelrechten Krämpfen geschüttelt. Er bog hastig in die Hauptstraße ein, in Richtung Polizeiwache.
    Obwohl er sicher war, Rose dort nicht zu finden, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, einen Blick in jeden Laden zu werfen, an dem er vorbeikam, und ihm war, als verfolgten ihn die Kaufleute, die zu dieser späten Stunde nichts zu tun hatten, ihrerseits mit unerklärlich strengen Blicken durch ihre Schaufenster. Etwa weil sie sich wunderten, fragte sich Herman, ihn an einem ersten September noch in der Gegend anzutreffen, bei Regen, im Hemd und tropfnaß, und ein solches Gebaren bereits verdächtig fanden? Vielleicht mochte man es hier nicht, wenn die Fremden den Herbst kennenlernten, der sie in gewisser Weise nichts anging, und empfand man dieses Vordringen in das geheimnisvolle Leben der Nachsaison als indiskret? Für eine Sekunde vergaß Herman jede Angst und fühlte sich ergriffen, da zu sein, im Dorf, zu dieser Jahreszeit, die keiner von den anderen Hauptstädtern kannte, denn die waren nun alle zurück in ihren Pariser Wohnungen und bildeten sich ein, wieauch Herman zuvor, der Landstrich, den sie zurückgelassen hatten, würde bis zu ihrer Wiederkehr im folgenden Sommer in Winterschlaf fallen, gleichsam kandiert in ewig grüner Süße.
    Wenn sie wüßten, dachte Herman mit leisem Stolz, daß wir vom ersten September an den ganzen Tag Regen haben und dann diese Kälte herrscht, von der sie dort in der Ferne nichts ahnen! Da wird sich manch einer wundern, wenn ich das erzähle …
    Er bemerkte zum ersten Mal, daß die Metzgerin, die Friseurin und die Bäckerin alle drei jene Bluse mit den Apfelblüten trugen, die er an seiner Nachbarin vom Gehöft gesehen hatte, daß sie ihnen in gleicher Weise die Brust einzwängte, so fest
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