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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang
Autoren: Marie Ndiaye
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blieb unbefriedigt. Doch da er im stillen befürchtete, daß man ihm, wenn er seine vollkommene Unwissenheit über den Betriebsablauf der dörflichen Institutionen offenlegte, weniger wohlwollend begegnen würde, nickte er nur verständnisvoll.
    »Wer ist der wichtigste, das heißt engste Mitarbeiter oder Stellvertreter des Bürgermeisters, den ich sofort treffen könnte?«
    »Da wäre immerhin der Vorsteher des Fremdenverkehrsamtes«, meinte die Empfangsdame mit einem liebenswürdigen, gewinnenden Lächeln.
    Sie will mir helfen, dachte Herman.
    Er nahm auf der Stelle an und erging sich in kleinenDankesbezeigungen. Doch bei der Aussicht, kostbare Zeit mit jemandem zu verschwenden, dessen Funktion ihm wenig dazu angetan schien, ihm beim Wiederfinden von Rose und dem Kleinen zu helfen, überkam ihn eine tiefe Mutlosigkeit, die seine Gedanken ganz konfus machte und seine Entschlossenheit untergrub. Die Empfangsdame stand auf und bat ihn, ihr zu folgen.
    Dieses Volk ist so höflich, dachte Herman, daß es mich wirksamer gefangenhält als durch Befehle und Verbote.
    Sodann bereute er es, die Möglichkeit abgewiesen zu haben, seinen Fall in die Hände einer Sekretärin zu legen, die dessen Wichtigkeit, ja dessen tragisches Potenzial vielleicht erkannt und ihn sofort an den Bürgermeister weitergeleitet hätte. Denn in der Überzeugung, Herman damit weiter zufriedenzustellen und zu beruhigen, berichtete ihm die Empfangsdame nun, der Vorsteher des Fremdenverkehrsamtes leite auch das Festkomitee. Herman fühlte sich fast beleidigt.
    »Das ist überhaupt nicht das, was ich brauche«, sagte er etwas zu laut.
    Vor lauter Ohnmacht brannten ihm die Augen. Die Empfangsdame tat, als habe sie ihn nicht gehört, aus Taktgefühl, nahm er an. Sie führte ihn zu einer schmalen, steilen Wendeltreppe, die aus der Eingangshallenach oben führte. Da sie voranging, bemerkte er, daß ihre Bluse keine Bänder hatte: Wahrscheinlich wurde sie an der Seite von einem Haken zusammengehalten.
    Sie ist also nicht verheiratet, sagte er sich und war stolz auf seinen Scharfsinn.
    Sie stiegen bis in den dritten Stock empor, die Empfangsdame geschmeidig und rasch, Herman unter Mühen. Die junge Frau hatte kräftige, hervortretende Wadenmuskeln, und diese Eigentümlichkeit, zusammen mit dem Fehlen der Bänder und jener Liebenswürdigkeit, die hier oft einem zärtlichen Schmachten nahekam (selbst der Polizist hatte Herman gegenüber solch sanfte Töne gebraucht), verwirrte ihn leicht. Wo er herkam, in Paris, sprach niemand so einschmeichelnd mit ihm, gab niemand sich solche Mühe, ihm das Gefühl zu vermitteln, es gebe nichts Wünschenswerteres, als ihm gefällig zu sein, auch wenn alle möglichen, von Herman nur erahnten Hindernisse es bisher verhindert hatten, daß man ihm tatsächlich zu Hilfe kam.
    Ich muß vermeiden, zu protestieren und zu fordern, sagte sich Herman, plötzlich voller Dankbarkeit gegenüber der Empfangsdame. Jeder weiß hier genau, was er zu tun hat, und vielleicht ist mein Fall auch schon mehr Leuten bekannt, als ich meine, vielleicht ist der Bürgermeister gerade dabei, über die notwendigen Maßnahmen nachzudenken, während er sichgleichzeitig die dringenden Angelegenheiten anhört, derentwegen man sich manchmal so lange gedulden muß.
    Beruhigt und zuversichtlich begleitete er die Empfangsdame schweigend durch einen Flur, der weit in den hinteren Teil des Gebäudes hineinführte, schnurgerade und so lang, daß Herman jede klare Vorstellung von den Größenverhältnissen des Dorfes abhanden kam.
    »Wie kann dieses Gebäude so weit nach hinten gehen?« flüsterte er.
    »Wir sind doch jetzt im Hügel!«
    Die Empfangsdame unterdrückte ein leises Auflachen, dann schaute sie ihn mit fast zärtlichem Vorwurf über die Schulter an.
    »Wissen Sie denn nicht, daß alle Häuser an der Hauptstraße nach hinten in den Hügel hineinreichen? Das kann einem hier schwerlich entgehen.«
    »Verzeihen Sie mir«, meinte Herman zerknirscht.
    Sie kamen an einer getönten Glastür vorbei, durch die Herman einen Blick in einen großen Saal werfen konnte, darin ein großer Tisch mit vielen Gesichtern drum herum, von denen er einige erkannte: Da waren der Fischhändler des Dorfes, die Milchhändlerin und ihr Mann, ein Caféwirt, die Metzgerin, alle über Papiere gebeugt oder mit einem Kugelschreiber in derHand jemandem zuhörend, den Herman nicht die Zeit hatte zu erkennen. Voller Erregung darüber, im dritten Stock des Rathauses all die Kaufleute versammelt
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