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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang
Autoren: Marie Ndiaye
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konnten.
    »Heute«, sagte der Fahrer, »wird es aber teurer als sonst, nicht wahr!«
    Er wandte ihnen ein breites, bläulichrotes Gesicht zu, und da sahen sie, daß ihm die Nase fehlte. Roses Mutter stieß einen kleinen Schrei aus. Dann drückte sie verlegen die Stirn an die Fensterscheibe und tat so, als würde sie die Straße betrachten.
    »Was immer Sie wollen«, murmelte Herman.
    Er stellte ergeben fest, daß der Mann betrunken war. Das Taxi war von Weingestank erfüllt. Sie verließen L.in ganz langsamem Tempo, vom Wind schon gerüttelt und geschüttelt.
    »Wie häßlich, wie scheußlich diese Stadt ist«, flüsterte die Mutter, kurz davor, in Tränen auszubrechen, wie Herman meinte.
    Der Fahrer hatte sie gehört und streckte den Zeigefinger hoch in die Luft. Sie fuhren jetzt die dunkle Landstraße entlang, so langsam, daß Herman das sichere Gefühl hatte, seine vollständige Verflüssigung würde lange, bevor sie das Dorf erreichten, abgeschlossen sein.
    Der Fahrer drehte sich beim Fahren halb zu ihnen um, zeigte ihnen sein plattes, erregtes Profil und erklärte: »Ja, aber Sie haben L. zu meiner Zeit nicht gekannt, da war es schön, das können Sie mir glauben, ich bin hier geboren und großgeworden, vor dem Krieg, da war L. ganz anders, Sie hätten es sehen sollen, alte Häuser, Fachwerk, alles schief und krumm, dann der Krieg, Bomben, Brände, und meine Nase geht dabei drauf, ein Splitter, hopp, ein Stück Backe weg, die ganze Nase, hast du deine Nase nicht gesehen, wo ist denn deine Nase hin, das höre ich seit fünfzig Jahren in allen Cafés von L., der Soundso hat deine Nase in der Tasche, mein Haus steht auf deiner Nase, das kann schon sein, der Schutt, da war sie drin, irgendwo begraben, meine Nase ist irgendwo im Boden von L., in seinenMauern, ich denke die ganze Zeit daran, sehen Sie, ich rede mit ihr, ich rufe sie, ich sehe sie, sie schaut zwischen zwei Backsteinen hervor, oder in der Fußgängerzone, da zwischen zwei Bodenplatten, meine Nase … Und das, wie soll man das verzeihen, nicht wahr, wie soll man das verzeihen …«
    Beim Reden versetzte er sich kleine Klapse über den Mund.
    »Ha, ha«, lachte Roses Vater auf.
    Er sah Herman an und tat so, als würde er sich die Nase abdrehen und in die Tasche stecken.
    »Ha, ha«, murmelte Herman.
    Aber da blieb das Auto stehen; der Fahrer fluchte und schlug gegen das Lenkrad.
    »Da haben wir’s, es läßt uns im Stich!« rief er aus.
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