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Verborgene Macht

Verborgene Macht

Titel: Verborgene Macht
Autoren: Gabriella Poole
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PROLOG
    »Hey, du. Fehlt dir was?«
    Die Stimme klang vertraut, aber irgendwie gedämpft und fern. Als käme sie vom Grund eines Brunnens. Mit einiger Mühe zwang Cassie Bell sich, die Augen zu öffnen. Blinzelnd sah sie sich um. Der Tisch war für dreizehn Personen gedeckt. In der Mitte stand ein gefüllter Truthahn, der höchstens für acht Personen reichte. Dazu gab es billige Cracker, fettige Bratwürstchen und zu lange gekochten Rosenkohl. Das Tischtuch war aus Papier.
    Weihnachten à la Cranlake Crescent.
    War es wirklich erst drei Wochen her, dass sie im eleganten Speisesaal der Dark Academy exquisite französische Gerichte zu sich genommen hatte? An einem Tisch, der mit feinem Porzellan und Kristall eingedeckt war? Es kam ihr vor, als läge ein ganzes Leben dazwischen.
    »Was ist los?«
    Cassie konzentrierte sich wieder auf die Gestalt mit dem sandfarbenen Haar auf der anderen Seite des Tischs. Ach ja. Patrick. Ihr Betreuer. Nur durch ihn wurde die Rückkehr in ihr altes Kinderheim erträglich. Sie brachte ein Lächeln zustande.
    »Hast du keinen Hunger, Cassie?«, fragte Jilly Beaton liebenswürdig vom Kopfende des Tisches. »Das sieht dir gar nicht ähnlich. Du hast uns vierzehn Tage lang die Haare vom Kopf gefressen.«
    Cassie bohrte die Nägel in die Innenflächen ihrer Hände. Jillys gehässige Bemerkungen waren seit ihrer Rückkehr aus Paris noch schlimmer geworden. Normalerweise hätte Cassie ihr die Genugtuung nicht gegönnt, aber ihre Nerven schienen von Tag zu Tag blanker zu liegen.
    »Nein, mir ist der Appetit vergangen«, blaffte sie, schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Entschuldigt mich bitte.«
    »Cassie Bell, niemand hat dir erlaubt... «, begann Jilly, aber Cassie hatte den Raum bereits verlassen.
    Patrick holte sie am Fuß der Treppe ein. Er schien besorgt. »Cassie, was ist los?«, fragte er. »Seit du aus Paris zurück bist, benimmst du dich so merkwürdig.«
    Cassie zögerte einen Moment. Wo sollte sie anfangen? Ihm die Wahrheit über die Akademie erzählen? Konnte sie ihm von der rätselhaften Gruppe von Schülern, die sich die Auserwählten nannten, erzählen? Von ihrem dunklen Geheimnis? Von den uralten Geistern, mit denen sie sich ihre Körper teilten und die ihnen Macht und Schönheit verliehen? Die aber als Gegenleistung verlangten, dass sie ihren gewöhnlichen, menschlichen Mitbewohnern Lebenskraft entzogen? Konnte sie ihm davon erzählen, was ihr an jenem dunklen Ort unter dem Arc de Triomphe widerfahren war — von dem unterbrochenen Ritual, durch das sie nun einen Teil des Geistes von Estelle Azzedine in sich trug? Konnte sie ihm von dem seltsamen, quälenden Hunger erzählen, der seither in ihr wuchs? Einem Hunger, den Truthahn und Bratwürstchen niemals stillen würden... ?
    Unmöglich.
    »Ich vermisse nur meine Freunde«, murmelte sie. »Das verstehst du doch, oder?«
    Patrick sah erleichtert aus. »Aber natürlich. Hast du heute mit einem von ihnen gesprochen?«
    »Ich habe gestern eine E-Mail von Isabella bekommen.. Und eine von, ähm, Ranjit.«
    »Wer ist Ranjit?«
    »Nur, ähm, ein Junge aus einem meiner Kurse«, erwiderte Cassie ein wenig nervös. »Warum?«
    Patricks Grinsen wurde breiter und seine blauen Augen funkelten. »Weil du rot geworden bist, als du seinen Namen gesagt hast.«
    »Hör bloß auf!« Cassie versetzte ihm einen spielerischen Schubs.
    »Dann ist er also nicht dein Freund?«
    »Nein, ist er nicht«, antwortete sie hastig.
    »So, so.«
    »Nein. Wirklich.« Cassie wickelte den Saum des Kaschmirpullovers, den ihre Freundin Isabella ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, um den Finger. »Es ist... kompliziert.«
    Ha! Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Ihre wenigen gestohlenen Augenblicke mit Ranjit am Ende des Trimesters hatten ihnen kaum genug Zeit gegeben, ihre Beziehung zu klären. Sie wusste nur, dass es in ihrer Magengrube vor Sehnsucht wie wild flatterte, wann immer sie an Ranjit dachte. Derzeit war er allerdings daheim in Indien, Tausende von Meilen entfernt. Sie würde sich eben damit abfinden müssen, ihn zu vermissen. Sie vermisste ihn so stark, dass sie fast meinte, sterben zu müssen. Solch starke Gefühle hätte Cassie nie für möglich gehalten.
    Plötzlich zuckte sie zusammen. Ein Klingelton hatte sie aus ihren Erinnerungen gerissen. Sie zog ihr Handy aus der Jeanstasche. Als Cassie den Namen auf dem Display las, hätte sie es beinahe fallen gelassen. Wieder schoss ihr das Blut ins Gesicht.
    »Wenn man vom Teufel spricht...«,
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