Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang
Autoren: Marie Ndiaye
Vom Netzwerk:
tropfte, so schien ihm, gegen die Wände seines Schädels, ja das ganze Innere seine Körpers triefte, ohne sich ergießen zu können. Er beobachtete erfreut, daß der Bürgermeister die Arme vor der Brust verschränkt hielt, um sich etwas Wärme zu verschaffen.
    »Es bleibt noch eine Frage zu klären«, sagte die Bäckerin, die schon mehrere Seiten ihres Notizbuchs vollgeschrieben hatte.
    Dann: »Es ist eine heikle Geschichte.«
    Sie hatte von der Sozialarbeiterin erfahren, die kleine V., ein dreizehnjähriges Mädchen, beschuldige ihren Stiefvater, sie regelmäßig, gewohnheitsmäßig zu vergewaltigen. Von seinem guten Recht überzeugt, machte der Mann übrigens kaum ein Geheimnis daraus.
    »Tja, es handelt sich also um V.«, sagte die Bäckerin nach einer Pause.
    Und Herman meinte zu verstehen, daß seine Tischnachbarn aus irgendeinem rätselhaften Grund keinen Wert darauf legten, daß gegen diesen V. Klage eingereicht wurde, was für Schandtaten er auch begangen haben mochte. Der Milchhändler seufzte und erklärte, er werde die Sache in die Hand nehmen, seine eigene Tocher kenne die kleine V. gut. Erleichtert klappte die Bäckerin ihr Notizbuch zu. Man trug Blätterteigpasteten und Wurstplatten auf.
    Dieses Feuer schlägt lebhafte, hohe Flammen, aber es wärmt nur den Rücken der Antiquitätenhändler – wie kalt und feucht die Luft ist! sagte sich Herman.
    Er hatte jetzt Angst, daß er dieses Essen nicht unbeschadet überstehen würde. Der dumpfe, modrige Geruch stach ihm in die Nase. Plötzlich ging dieTür des Eßzimmers auf, jemand kam leise herein. Es war die Gestalt, das Wesen, das Herman seit seiner Ankunft durch das Fenster beobachtete, Alfreds verschwundene Frau, die bei den Metzgern wohnte. Sie trug ein altmodisches, kleingeblümtes Sommerkleid. Lächelnd und still huschte sie um den ganzen Tisch herum, leise hinter Herman vorbei, verneigte sich nach rechts, nach links, unendlich höflich, und ihre Füße, die in Sandalen steckten, berührten den Boden kaum, streiften über ihn hin wie ein Lufthauch. Herman sah sie zum ersten Mal aus der Nähe, und er fand, unter ihrem beständigen Lächeln sah sie traurig und müde aus, vorzeitig gealtert. Verwirrt und verängstigt dachte er: Trotz allem, was man ihm über das unsagbare Glück dieser Wesen erzählt hatte, war sie doch in Wirklichkeit eine unerlöste Seele und, wie sie so den lieben langen Tag hinter ihrem Fenster saß, ein Inbild der Langeweile und der Trostlosigkeit.
    Jeder der Gäste antwortete mit einem kurzen Kopfnicken auf ihren Gruß. Danach schenkte man ihr keinerlei Aufmerksamkeit mehr, obwohl sie weiter lächelte und sich verbeugte.
    Warum, fragte sich Herman, dem diese Mißachtung Unbehagen bereitete, warum hat sie wohl im Dorf bleiben wollen, warum ist sie nicht nach Paris zurückgekehrt? Es ist doch so, man schert sich nichtum ihre Anwesenheit, nein, sie flößt ihnen keinerlei Ehrfurcht ein, nicht mehr und nicht weniger als ein kleines Dienstmädchen, das in einer Kammer des Hauses wohnt.
    Herman meinte gespürt zu haben, das Wesen habe ihn im Vorbeigehen an der Schulter berührt. Er wagte nicht, es anzulächeln oder länger anzuschauen, als die anderen es taten. Doch ihm war, als zöge sich sein Herz zusammen und sondere etwas ab. Der Geruch des Hauses vermischte sich jetzt zu seinem Ekel mit dem starken Körpergeruch des Immobilienmaklers, der beim Essen ausgiebig schwitzte. Jemand klagte, die Pariser hätten in diesem Jahr nicht so viel eingebracht wie in den vorigen Sommern. Sie hätten sich jeden größeren Kauf zweimal überlegt, bestätigten die Antiquitätenhändler. Ja, auch die Metzger hätten viel weniger Pasteten von dieser oder jener Sorte verkauft.
    Schmerzliches Mitgefühl schnürte Herman die Kehle zu – beim Anblick des Wesens wurde es ihm zur Gewißheit, daß die zarten, wogenden Gestalten von Rose und dem Kind, die er vor ein oder zwei Wochen kurz erblickt hatte, wohl nur scheinbar heiter gewesen waren, daß die gelassenen, abgeklärten, lächelnden blassen Gesichter einen untröstlichen Gram verbargen. Alfreds Frau lief weiter um den Tisch herum,ohne sich zum Gehen zu entschließen. Die Eindringlichkeit, die Breite ihres Lächelns nahmen im gleichen Maß zu wie die Gleichgültigkeit, die ihr von seiten der geladenen Gäste entgegenschlug, während diese jetzt voller Ernst berechneten (die Bäckerin hatte ihr Notizbuch wieder hervorgeholt), wie viele Schweine, wie viele Rinder, wieviel Geflügel und Fisch die Pariser
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher