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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang
Autoren: Marie Ndiaye
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regnete. Herman nahm seinen Schirm, doch er hatte keine anderen Schuhe als jene feinen, die den Blick des Polizisten auf sich gezogen hatten und noch ganz mit Wasser vollgesogen waren. Im übrigen war ihm, als sei die Feuchtigkeit schon in seine Kleider, die Matratze und bis in die Möbel gedrungen, die etwas dunkler und klamm wirkten. Sein Haar kam ihm leicht feucht vor und das Haus unheimlich.
    »Plötzlich wird alles zum Feind«, murrte er. »Ist das der Preis dafür, den Herbst hier zu erleben?«
    Als er hinausging, schlug er die Tür hinter sich zu, ohne abzuschließen. Und er formulierte dabei den Wunsch, dieses Haus nicht vor dem nächsten Sommer wieder zu betreten, was auch geschehen mochte, und dachte sogar, er sei am Vorabend recht leichtsinnig gewesen, als er zum Schlafen herkam, ohne sich zuvor über die Gefahren zu informieren, denen er sich aussetzte, indem er nur nach seinem Kopf handelte, ohne die Gesetze und Bräuche zu beachten, die das nachsommerliche Leben hier regeln mußten.
    Der Rasen war schon von regelrechten kleinen Seen übersät. Er stakste unbeholfen darüber. Seine Knochen, so kam es ihm vor, seine Eingeweide, alles in ihm war gleichermaßen durchnäßt, steif und kalt. Er ging den Pfad wieder hinab, und der Matsch, der unter seinen Schritten aufspritzte und seine Hose beschmutzte, war ihm jetzt gleichgültig. Er ging geradewegs zum Rathaus, das er geöffnet vorfand, obwohles gerade erst acht Uhr war. Es war ein altes Fachwerkgebäude, etwas abseits von der Dorfmitte, gegenüber der Polizeiwache. Die Fassade war schmal und hoch. Sobald er jedoch in der Eingangshalle stand, die er zum ersten Mal betrat, stellte Herman fest, daß sich nach hinten eine lange Zimmerflucht erstreckte. Eine Menge Frauen mit klappernden Absätzen liefen zwischen den Räumen hin und her, beladen mit Akten und dicken Ordnern, Kugelschreiber hinters Ohr geklemmt oder in den Dutt gespießt. Er wunderte sich über die äußerst moderne Ausstattung und Gestaltung der großen Eingangshalle, während das Rathaus seines eigenen Viertels in der Hauptstadt nur über kleine Zimmer mit schwärzlichem Parkett verfügte, vergilbt und mit ein paar wenigen, schäbigen Stühlen bestückt. Er war auch über die große Zahl der Angestellten überrascht. Sie trugen alle das gleiche dunkelblaue Kostüm über der traditionellen Bluse, deren farbige Bänder unter der kurzen Jacke hervorschauten und fröhlich auf der Hüfte tanzten. Was die Räume im hinteren Teil des Gebäudes anging, aus denen die Angestellten hervorkamen, so konnte Herman, der durch die offenen Türen lugte, ihr Ende nicht erkennen, was ihn annehmen ließ, es müßten sechs oder sieben hintereinander sein.
    Plötzlich eingeschüchtert, wegen seiner schmutzigen Schuhe peinlich berührt, sprach er die Empfangsdame an, die sehr aufrecht hinter einem langen Glastisch saß.
    »Ich möchte den Herrn Bürgermeister sprechen, in einer ernsten Angelegenheit.«
    »Haben Sie einen Termin?« fragte sie mit metallischer Stimme.
    »Nein, nein, aber es ist dringend, sehr dringend.«
    Betrübt, elegant zog sie die Augenbrauen hoch und machte sich daran, ihm zu erklären, die Angelegenheiten, mit denen der Bürgermeister sich tagtäglich ab sieben Uhr früh befasse, seien alle, ausnahmslos, von höchster Dringlichkeit, mit den anderen betraue man die Sekretärinnen oder Angestellten, und es sei ihr unmöglich, Herman an die Stelle eines anderen rücken zu lassen, der in einer ebenfalls dringenden Sache möglicherweise schon Wochen vorher um einen Termin gebeten habe.
    »Aber meine Angelegenheit ist besonders schwerwiegend!« rief Herman aus, obwohl er sich schon geschlagen gab.
    Hatte er sich jemals gegen die Gesetze der Verwaltung aufgelehnt, wenn sie ihm auf begründete und unerbittliche Weise dargelegt wurden? Die Empfangsdame bat höflich darum, ihn darauf hinweisen zu dürfen, daß in den Augen der Gesuchsteller alle ernstenAngelegenheiten die gleiche höchste Dringlichkeit aufwiesen.
    »Schon«, erwiderte Herman, »aber …«
    »Möchten Sie Ihre Angelegenheit zunächst einer Sekretärin unterbreiten?«
    Er zuckte entsetzt zusammen und lehnte rundweg ab. Um die Schroffheit seiner Reaktion abzumildern, erkundigte er sich sodann in demütigem Ton, womit so viele Menschen hier beschäftigt seien.
    »Die Gemeinde ist groß«, antwortete die Empfangsdame leicht verwundert. »Das ist hier der Hauptort des Landkreises, es gibt viele Probleme und Fragen zu bearbeiten.«
    Seine Neugier
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