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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang
Autoren: Marie Ndiaye
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verschnürten sie die bunten Bänder mit ihrer ganz bestimmten Bedeutung, und dies war es, so erkannte Herman, was ihnen ihren gemessenen, etwas steifen Ausdruck und jene aufrechte Haltung verlieh, bei der allein der Hals sich frei zu bewegen schien und der Kopf sich sanft dem Gegenüber zuneigte, genau wie bei der Bäuerin, als sie ihm ihre Aufmerksamkeit bekundete. Im grellen, weißen Licht der Läden übersäten die rotglühenden Herzen der kleinen Blüten die reglosen Büsten hinter ihren Kassen mit blutigen Punkten, und die Ladeninhaberinnen schoben nur etwas die Stirn vor, um Herman mit ihren gebieterischen, kalten Augen besser zu beobachten. Sielächelten ihm zu, wenn Herman sie musterte, jedoch nur mit den Lippen, auf fast mondäne Art, und entblößten übertrieben weit die Zähne. Dann neigte sich der Kopf zu einer angedeuteten Verbeugung, der Blick senkte sich und floh, und die blutroten Flecken auf der Bluse gerieten in wogende Bewegung.
    Voller Unbehagen hörte Herman auf, in die Schaufenster zu sehen. Er rannte bis zur Polizeiwache ganz am Ende der Hauptstraße, da, wo mit dem Dorf auch die Reihen der Straßenlaternen endeten und die Nationalstraße nach Paris ihren Anfang nahm. Das Gebäude lag im Dunkeln. Er stieß dennoch die Tür auf, und sofort blitzte in dem Büro, das er betrat, grelles Licht auf und blendete ihn. Er kniff die Augen zusammen und rief dann erleichtert aus: »Ah, es ist jemand da!« Und seine Sorge ließ endlich etwas nach.
    Hinter dem einzigen Tisch im Raum saß ein Polizist auf einem Stuhl und spielte mit seinem Kugelschreiber herum. Er hatte die Lampe angeknipst, sobald die Tür aufgegangen war, doch Herman hatte nicht den Eindruck, daß er aus einem Schläfchen erwachte. Sein Auge war lebhaft, ruhig, wachsam. Herman ging sofort auf den dicken Ofen zu, der in einer Ecke brummte, stellte sich mit seinem eiskalten Rücken davor und seufzte vor beinahe schmerzlichem Behagen laut auf. Es kam ihm vor, als falle der Blick desPolizisten immer wieder auf seine Schuhe aus feinem, orangebraunem Leder, die für ländliche Wege wenig geeignet waren.
    »Ich komme in einer ernsten Angelegenheit«, setzte er an.
    »Morgen. Die Dienststelle ist jetzt geschlossen.«
    Obwohl er nicht lächelte, zeigte das Gesicht des Polizisten einen Ausdruck von äußerster, liebenswürdigster Höflichkeit, der Herman einmal mehr verwirrte. Er meinte hoffen zu dürfen, ein solcher Ausdruck könne nichts anderes bedeuten, als daß man alles tun würde, um ihm gefällig zu sein, und es war ganz so, als hätte der Polizist, entgegen seinen ersten Worten, ausgerufen: Zu Ihren Diensten!
    Ermutigt tat Herman, als habe er nicht gehört. Er erklärte ausführlich, wie Rose und ihr achtjähriger Junge verschwunden waren, daß sie alle drei am folgenden Tag nach Hause fahren müßten, und er betonte mehrfach und, wie er selbst fand, etwas absurderweise den besonderen Umstand, daß sie ihre Rückreise nach Paris in den vorigen Jahren nie so lange aufgeschoben hatten. Er bat den Polizisten, die Personenbeschreibung von Rose und dem Kleinen aufzunehmen. Und während er redete, steigerte sich seine Sorge wieder, bis er erschöpft spürte, wie seine Stimme brach, sein Magen sich zusammenkrampfte.
    »Verstehen Sie mich recht«, wiederholte er, obwohl er genau wußte, daß er schon genug gesagt hatte, »es ist das erste Mal, daß ich hier den Herbst erlebe, den Regen, diese durchdringende Kälte … Wir waren sonst um diese Zeit immer schon abgereist, und von dem, was hier danach los ist, wußten wir nichts.«
    Der Polizist hörte ihm regungslos zu, ohne Anstalten zu machen, etwas zu notieren, Herman leicht zugeneigt, voller Takt und Vornehmheit bis ins letzte Detail seiner Haltung. Auf Hermans Rede folgte eine lange Pause, und hinter seinem Rücken rieb er sich ermattet die Hände, dicht vor dem glühendheißen Ofen. Schließlich zog der Polizist behutsam die Augenbrauen hoch, als habe er so lange mit seiner Antwort gewartet, um ganz sicher zu sein, daß sein Gast fertig war, und um nicht Gefahr zu laufen, ihn in seinen Ausführungen zu unterbrechen. Er war ein ganz junger Mann mit blassem Haar, von jener unklaren gelblichen Farbe, die mit nichts anderem in der Natur vergleichbar und für die Haarschöpfe der Gegend typisch war.
    »Von derartigen Geschichten haben wir noch nie gehört«, sagte er mit wohlklingender Stimme. »Soweit ich mich erinnern kann, ist kein Bewohner des Dorfes jemals verschwunden.«
    »Wir sind nicht aus
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