Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang
Autoren: Marie Ndiaye
Vom Netzwerk:
niemand weiß oder erinnert sich noch, daß ich dieser verhaßten Gattung angehöre. Ich wohne im Hotel du Relais, wo ich Ihnen auch empfehlen würde, gleich ein Zimmer zu nehmen, denn Ihr Haus auf der Anhöhe werden Sie natürlich verlassen.«
    »Ich hatte nicht vor, dorthin zurückzukehren«, sagte Herman hochmütig.
    »Gut. Ich rate Ihnen sogar, es ganz zu vergessen, alles zu vergessen, was Sie mit Ihrem vergangenen Leben eines Pariser Sommergastes verbindet. Und passen Sie folglich auch auf, was Sie sagen. Sie werden sehen, dann wird man Sie ganz allmählich, ohne daß Sie es merken, zu Ihrer Frau und dem Kind führen, und wer weiß, vielleicht werden Sie darüber gar nicht so glücklich sein.«
    Herman zuckte mit den Achseln, zu empört zumAntworten. Die offenkundige Befriedigung des Vorstehers, sich seines Falls zu bemächtigen, die beinahe lüsterne Freude, die in seinen schlauen kleinen Augen aufleuchtete, machten ihn skeptisch und mißtrauisch. Er fühlte sich jedoch zu schwach, allein und hilflos, um die Vorgehensweise, die dieser ihm empfahl, einfach mit einem verächtlichen, entschiedenen Satz zu verwerfen. Im übrigen mußte er zugeben, daß nichts darauf hindeutete, daß man ihn in die Irre führen wollte. Im Gegenteil, aus der ganzen inbrünstigen Art des Vorstehers schien ihm eine gewisse Demut zu sprechen, die Demut eines opferbereiten Eiferers.
    Der Vorsteher rieb sich entzückt die Hände. Vor lauter Freude entfuhr es ihm: »Erlauben Sie mir als ehemaligem Pariser, also als ›Landsmann‹, wenn man so will, Sie ein wenig zu besitzen, Sie ein ganz klein wenig zu meinem Werk, meinem Sohn zu machen! Zögern Sie nicht, sich mir anzuvertrauen. Ich weiß alles über dieses Dorf und kann mir sogar schmeicheln, hier eine unleugbare Macht erlangt zu haben. Hören Sie auf niemand anderen als auf mich, wenn Sie ein Problem haben. Ach, und da wir gerade über Macht sprechen …«
    Er setzte eine verschreckte Miene auf und tippte sich mit einem Finger an die Stirn. Herman spürte voller Wut, wie er sich aus Schwäche immer mehr derZustimmung ergab. Saß da vor ihm nicht eine kleine Nummer, jemand, der wohl nach Ende des Sommers sogar nichts anderes mehr war als der Leiter des Festkomitees? Und was für Feste konnte man im endlosen Regen der kalten Jahreszeit schon organisieren? Abgesehen davon war es jedoch eher angenehm, seinen Kummer bei jemandem abgeladen zu haben. Herman war plötzlich so müde, daß er vielleicht nicht einmal aufgestanden wäre, ja kaum den Kopf zur Seite gedreht hätte, wenn man ihm gesagt hätte, daß der Bürgermeister in diesem Moment über den Flur ging. Er hörte jetzt mit halbem Ohr zu, als sei sein Fall schon zu einem glücklichen Ende gekommen.
    »Ich habe vergessen, Ihnen von den Kaufleuten zu erzählen, dem größten und einflußreichsten Berufsstand unseres Dorfes. Manche gehen sogar so weit zu sagen, bei uns herrschten die Kaufleute seit einem Jahrhundert uneingeschränkt. Sie halten heute ihre kleine wöchentliche Versammlung ab, genau hier, im gleichen Stockwerk. Niemand, der nicht zu den Kaufleuten gehört, darf dabeisein, und da sie vorsichtig und schlau sind, weiß man nie, was da besprochen wird, man nimmt lediglich an, daß sie gemeinsam über Mittel und Wege nachdenken, ihre Macht und ihren Gewinn zu mehren. Sie haben den größten Einfluß selbst auf unseren Bürgermeister und sitzen fastalle im Gemeinderat. Und sie verstehen es, ihre Kinder auf die strategischen Posten der Region zu verteilen – so ist etwa die Tochter der Bäckersleute Sekretärin des Präfekten geworden, fünfzig Kilometer von hier, einer der Söhne des Relais spielt jede Woche mit dem Landrat Tennis, ganz zu schweigen von all denen, die mehr oder weniger enge Verbindungen zu den Chefs der Polizei oder der Feuerwehr pflegen. Ich sage Ihnen ehrlich, was ich darüber denke, zu Ihrem Schutz: Die hiesigen Kaufleute sind eine üble Brut, gefährlich, gerissen, überall eingeführt und steinreich, auch wenn sie jammern, seufzen und die Hände ringen, sobald das Wort Geld fällt. Nehmen Sie sich in acht, aber seien Sie schlau: Versuchen Sie sich mit ein paar von ihnen anzufreunden, berücksichtigen Sie dabei jedoch den unergründlichen Neid der einen auf die anderen, der sich auf verschiedenste und wechselnde Art äußert. Ich wäre nicht überrascht, wenn die Kaufleute Sie, ohne es Ihnen deutlich zu verstehen zu geben, zu denen führen würden, die Sie suchen, ich wäre nicht überrascht, bestätigt zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher